Fernsehen
Wende auf den Bildschirmen: Nachrichtensendungen von ARD und ZDF verlieren, News-Magazine von Privaten gewinnen Zuschauer.
31089 byte, Zuschauerzahlen Nachrichtensendungen
Es liegt was in der Luft. Der Tag riecht nach Schlagzeilen: Die Nato bereitet den Schlag gegen die Serben vor. Attentat auf den georgischen Präsidenten Schewardnadse. Der Tarifkonflikt bei VW verschärft sich. Selbst in der Kultur ist was los: Der Schriftsteller Michael Ende ("Momo") ist gestorben, Nachrufe sind Pflicht.
Der Dienstag vergangener Woche ist in der Tat "ereignisstark", wie das der Chefredakteur der "Tagesschau", Ulrich Deppendorf, zu nennen pflegt. Und alle Sender, private wie öffentlich-rechtliche, berichten ausgesprochen seriös. Von Verflachung keine Spur.
Peter Kloeppel von "RTL aktuell" schaut genauso ernst drein wie Jan Hofer von der "Tagesschau". Der Schlohkopf Heiner Bremer ("RTL Nachtjournal") übt sich in knappster Kommentierung, selbst ZDF-"heute-journal"-Anchorman Wolf von Lojewski wirkt im Vergleich wie eine Plaudertasche. Schwerpunkte und Hauptthemen - sie ähneln sich an diesem Abend bis zur Verwechselbarkeit.
Das "Newsmagazin" des Kirch-Senders Sat 1 (mit Detlef Korus) hat seinen Reporter Hans Schregelmann an den Lago Maggiore geschickt, damit die Verurteilung der Serben durch den dort zum Staatsbesuch weilenden Kanzler Kohl noch nachdrücklicher über den Schirm kommt - die Öffentlich-Rechtlichen könnten es nicht staatstragender tun.
Erst bei genauerem Hinsehen tun sich die Differenzen auf. Die Thoma-Leute bevorzugen die blutigen Bilder aus Sarajevo, während bei ARD und ZDF die Talking Heads der Korrespondenten zu sehen sind und die schweren Wagen mit den gewichtigen Diplomaten und Politikern in Paris vor dem Elysee-Palast an- und abfahren. Dort Jugoslawienkrieg pur, hier das Geschehen wie hinter Glas.
Doch Vorsicht mit dem Urteil: Schließlich fallen die Würfel über einen Schlag der Nato nicht in Bosnien, sondern in Paris, Brüssel und Washington. "Bilder", rechtfertigt sich "Tagesschau"-Chef Deppendorf, "haben bei uns keine Priorität, sondern Nachrichten."
Was manchmal tatsächlich Vorteile hat: Erst das ARD-Nachrichtenflaggschiff "Tagesschau" verdeutlicht mit einem Hintergrundbericht, warum die Terroristin Sieglinde Hofmann ihren neuerlichen Prozeß in Stuttgart stört. Den Privaten war Hofmanns Auftritt zwar ein paar spektakuläre Szenen, aber keine zureichende Erklärung wert.
Dennoch ist der Trend eindeutig: Sämtliche Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Sender verlieren Zuschauer an die News-Magazine der Privatstationen, vor allem "heute", "heute-journal" und "Tagesthemen" haben mit beträchtlichen Quotenverlusten zu kämpfen und ihre Zuschauerzahlen in den letzten Jahren nahezu halbiert. Nachrichtensendungen wie "RTL aktuell" dagegen verdreifachten ihren Zuschaueranteil in den letzten Jahren (siehe Grafik).
Das liegt nicht allein an wachsender Konkurrenz und einem im Vergleich zu den Kommerziellen weniger attraktiven Programmumfeld. Viele junge Zuschauer haben nach Erkenntnissen von Michael Darkow, Fernsehforschungschef bei der Gesellschaft für Kommunikationsforschung in Nürnberg, ein steigendes Bedürfnis nach Unterhaltung. Darkow-Kollege Bernward Frank vom ZDF fand heraus, daß die Jungen die Nachrichten bei den Privaten mitnehmen, wenn sie dort Filme und Serien konsumieren. Früher schalteten die Leute automatisch zu "Tagesschau" und "heute", jetzt sind die Nachrichten der Öffentlich-Rechtlichen nur bei großen Ereignissen ein Muß.
"heute" gerät darüber hinaus ins Wanken, weil es zunehmend sein Publikum verfehlt: Den an einer seriösen Darbietung Interessierten ist die Sendung zu bunt, Stammnutzern von RTL und Sat 1, Konsumenten mit Hang zum Leichten, kommt sie zu ernst vor, und wer erst nach 19 Uhr von der Arbeit heimkommt, schaltet die "Tagesschau" ein.
"heute-journal" und "Tagesthemen" haben das Problem, sich nicht klar zwischen Hintergrundberichten und Aktualität entscheiden zu können. Letzten Dienstag bemühte sich die "Tagesthemen"-Moderatorin Sabine Christiansen minutenlang um Auskunft vom Verhandlungsführer der Arbeitgeber bei VW, ob man sich heute nacht noch einigen werde. Der wußte das - wie sollte er auch - natürlich nicht. Und auch der Zuschauer wurde nicht schlauer.
Das "heute-journal" füllte seine Zeit mit einem Auslandsbericht, der Interessantes avisierte: Durch die Entführungen würden Touristen in Kaschmir nicht abgeschreckt, sondern im Gegenteil angezogen. Die Leute seien scharf auf den Gefahrenthrill. Doch leider versäumte es der Reporter, auch nur einen ausländischen Besucher danach zu befragen, und ließ lieber - in staatstragender Manier - einen indischen Fremdenverkehrsfachmann über die Sicherheit im Land dozieren.
Anders als die Privaten haben die Öffentlich-Rechtlichen in den meisten Sendungen Scheu, mit Kamera und Mikrofon auf das Volk zuzugehen. Als fürchteten sie, der O-Ton klinge zuwenig ausgewogen, als sei die Nahaufnahme weniger aussagekräftig als der distanzierte Bericht.
Noch freilich ist das Nachrichtengeschäft nicht in der Hand der Privaten. Die "Tagesschau" hat Kratzer bekommen, dominiert aber nach wie vor den Markt. "Wir haben erfolgreich viele Stürme überlebt", sagt Deppendorf stolz. Die schwerfällige ARD will sich noch auftakeln. Um jüngere Zuschauer zu ködern, ist eine flottere Nachrichtensendung um 18 Uhr geplant (Arbeitstitel: "Tagesmagazin"). Die "Tagesthemen" sollen mehr Hintergrundinformation bieten.
Schließlich ist auch das Styling im Studio nach Deppendorfs Ansicht verbesserungsbedürftig. Die News-Crew von Pro Sieben hat mit einer Wettersimulation aus dem Flugzeug und jeder Menge Grafiken vorgemacht, daß auch im Nachrichtengeschäft offenbar das Design das Bewußtsein der Zuschauer beeinflußt.
Ein neuer Sturm steht der kampfstarken ARD-Fregatte "Tagesschau" allerdings schon bald ins Haus: Sowohl Sat 1 als auch der jugendstarke Kirch-Sender Pro Sieben wollen im nächsten Jahr mit ihrem Abendprogramm um Punkt acht beginnen.
"Nachrichten", weiß RTL-Informationschef Hans Mahr, "sind finanziell ein Zusatzgeschäft." Der Grund: Sie dürfen nicht von Werbung unterbrochen werden. Deshalb packen Sat 1 und Pro Sieben ihre Sendungen in einen Verbund mit Boulevardmagazinen. Das schafft Lücken für Reklame.
Was die Nachrichtenoffensive der Privaten an journalistischer Qualität bringt, läßt das Beispiel Sat 1 erahnen. Hier wurde zwar mit Ullrich Meyer ein populärer Anchorman gewonnen. Gleichzeitig sollen aber 150 Mitarbeiter entlassen werden, wenn die Redaktion von Hamburg nach Berlin umzieht.
Das ZDF holte sich vor Jahren bei dem Versuch, mit einem Acht-Uhr-Programmbericht die "Tagesschau" auszuhebeln, eine blutige Nase. RTL-Chef Helmut Thoma, sonst immer für einen Raubzug gegen die Öffentlich-Rechtlichen zu haben, hat vor der Info-Übermutter aus Hamburg Respekt: "Die könnten die Tagesschau in Latein verlesen mit zwei brennenden Kerzen, und die Sendung hätte immer noch gute Ratings."
DER SPIEGEL 36/1995 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags
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