hide random home http://hamburg.bda.de:800/spiegel/medien/netcash.html (Einblicke ins Internet, 10/1995)

Virtueller Silberdollar

DER SPIEGEL 10/1995

Virtueller Silberdollar

Neue digitale Zahlungsmittel sollen aus den Datennetzen ein globales Kaufhaus machen. Doch der elektronische Handelsverkehr birgt Tücken.

Zuerst stellt das kleine Symbol unten links auf dem Computermonitor einen zerbrochenen Schlüssel dar. Dann aber fügen sich, wie von Zauberhand bewegt, die Hälften zusammen.

Die unscheinbare Operation, sichtbar seit vorvergangener Woche auf den Bildschirmen von Nutzern des weltgrößten Computernetzwerks Internet, markiert den Beginn einer neuen Ära, die Technikbegeisterte wieder mal als digitale Revolution feiern. Herauskommen soll immerhin ein gigantisches Geschäft.

Das Spiel mit dem zerbrochenen Schlüsselchen in der weitverbreiteten Netz-Software Netscape signalisiert der Kundschaft, die über Computer, Modem und Telefonleitung ans Internet angeschlossen ist, daß sich nun jede denkbare Ware, vom Traumauto bis zum Darjeeling-Tee, elektronisch nicht mehr nur ordern läßt. Von nun an kann sie auch direkt mit einer neuen digitalen Währung bezahlt werden, die angeblich vor Hackern und Betrügern geschützt ist: Netcash ist da.

Den Anfang machte der kalifornische Weinhandel Virtual Vineyards. Das elektronisch gestützte Versandgeschäft ist eine von zigtausend Firmen, die das Internet als Vertriebsnetz entdeckt haben.

Sie alle nutzen das multimediale Informationssystem World Wide Web ("Web"). Es bietet den Nutzern einen grafisch gefälligen und einfachen Zugang zu den immensen Beständen an Daten und Informationen im globalen Computerverbund - von der Patentauskunft oder Programminformation des WDR und der Deutschen Welle über Rezepte für die Sauce zum Truthahn bis hin zur Porno-Ecke.

Wer etwas bestellen will, etwa beim Weinhändler in Kalifornien, kann vom Computer zu Hause aus eine sichere Verbindung zum Versandrechner aufbauen. Die Kreditkartendaten werden beim Bezahlen per Datenleitung nach einem Verfahren der US-Firma RSA wirksam verschlüsselt. Erstmals können damit Kunden auch im Internet, wo nach dem Spott von Fachleuten auf jeden Hacker mindestens zwei Sicherheitslücken kommen, mit dem guten Namen ihre Rechnungen begleichen - sie sollen vor Mißbrauch dabei nicht mehr Angst haben als im wirklichen Leben.

Das frühere Forschungsnetz entwickelt sich zum elektronischen Weltmarkt, auf dem sich, theoretisch jedenfalls, inzwischen mehr als 35 Millionen potentielle Käufer erreichen lassen. Vinton Cerf, 51, der in den sechziger Jahren die einstige Hacker-Idylle mitgegründet hat und heute dem Dachverband Internet Society präsidiert, sagt voraus, daß noch dieses Jahr "in großem Stil die kommerzielle Nutzung des Internet geprobt wird".

Mehr als 3000 Kommerz-Computer klinken sich inzwischen allmonatlich neu ins Netz ein, 400 Banken und Spezialfirmen wie das holländische Unternehmen Digicash, das von dem Verschlüsselungsfachmann David Chaum gegründet wurde, haben schon Filialen im Cyberspace eröffnet. Traditionelle Online-Dienste wie Compuserve, America Online, Prodigy und die deutsche Telekom mit ihrem Bildschirmtext-System Datex-J rüsten um und koppeln ihre Netze direkt an.

Der Ausbau zum Kommerzsystem ist auch eines der meistdebattierten Themen bei den Konferenzen und an den Ständen auf der weltgrößten Computermesse Cebit, die diese Woche in Hannover eröffnet wird. So bietet die Internet-Firma Sysnet aus Frankfurt einen "virtuellen Messerundgang" an: Digitalkameras sollen Momentaufnahmen über das Netz direkt auf den PC-Bildschirm der Interessenten am Computer zu Hause schicken. "Das Internet", frohlockt Andreas von Bechtolsheim, Mitgründer des kalifornischen Rechnerherstellers Sun Microsystems, "wird 1995 endgültig kommerzialisiert."

Zugleich jedoch wächst die Skepsis, ob die Rechnung so glatt aufgeht. "Wie kommt es nur", frotzelte im Nachrichtenmagazin Newsweek jetzt der Sicherheitsfachmann und Buchautor Clifford Stoll, "daß mein Einkaufszentrum um die Ecke an einem Nachmittag mehr Umsatz macht als das ganze Internet in einem Monat?"

Die möglichen Ursachen sind etwa so vielfältig wie die neugegründeten Software- und Beratungsfirmen, die eine Kommerzbresche in den wuchernden Internet-Dschungel schlagen wollen. Pioniere, die auf dem unwirtlichen Terrain nach dem schnellen Geschäft jagen, fallen um so leichter den Gesetzlosen im Cyberland zum Opfer.

Jüngstes Beispiel: der amerikanische Superhacker Kevin Mitnick, 31, der nach langer Fahndung jetzt vom FBI in Raleigh (US-Staat North Carolina) festgenommen wurde. Er soll, bei einem digitalen Überfall auf die elektronische Poststation des Internet-Anbieters Netcom im kalifornischen San Jose, mehrere tausend Kreditkarteneinträge von Kunden der Firma erbeutet haben. In den Rechner eingeschlichen hatte sich der Datenräuber durch ein Software-Schlupfloch im Netz, das den meisten Systembetreibern bislang verborgen geblieben war.

Ähnliche Sicherheitslücken im Internet tun sich mittlerweile fast jede Woche auf. Doch amerikanische Firmen und Online-Kunden lassen sich davon nicht schrecken. Nach Ansicht von Louis Rossetto, Herausgeber des amerikanischen High-Tech-Magazins Wired und Chef des Internet-Dienstes Hotwired, stehen die Gewinner bereits fest: "neue Medien-Unternehmen, Kreditkartenkonzerne und neue Spezialfirmen für digitale Zahlungsformen".

Die sind, sagt ein Mitarbeiter der Deutschen Bank in Frankfurt, für das Wachstum des Online-Weltmarkts "essentiell". Was in den Boomtowns des Wilden Westens der Silberdollar war, ist im Cyberland der "Cyberbuck", der Digitaldollar, das elektronische Netzgeld - kurz E-Cash oder Netcash genannt.

Rund ein Dutzend Spezialfirmen in den USA, in Großbritannien und in den Niederlanden versuchen derzeit, Online-Zahlungsmittel für den Netzverkehr zu entwickeln. Doch bisher sind auf dem Weg zur digitalen Weltwährung erst zwei Grundkonzepte erkennbar.

Beim ersten Verfahren erhält der Online-Kunde von seiner Spezialbank am Netz codierte Zahlenketten, für die er zunächst per Abbuchung von seinem herkömmlichen Konto bezahlen muß. Solche Netcash-Codes können dann per Datenleitung etwa an ein Versandhaus übertragen werden, bei dem der Kunde etwas bestellt hat - der entsprechende Betrag wird dann der Firma gutgeschrieben, wiederum von der Spezialbank im Netz. Nach diesem Prinzip funktioniert beispielsweise die amerikanische Netbank, die voriges Jahr als "First National Bank of Cyberspace" online ging (SPIEGEL 32/1994).

Als eine der aussichtsreichsten E-Cash-Firmen gilt das holländische Unternehmen Digicash des früheren Informatik-Professors Chaum. Hauptargument für seine Version: Die Cyberwährung wäre so anonym wie bares Geld, anders als bei Kreditkarten kann die Konsumspur des Kunden nicht nachträglich zurückverfolgt werden.

Die zweite Methode hingegen, die jetzt erstmals von Virtual Vineyards vorgeführt wurde, macht sich den Vorzug der Kreditkarte zunutze. Bei 90 Prozent der Bestellungen per Internet wurden die Kreditkartennummern bislang telefonisch abgefragt, um Betrügereien von Computerkriminellen vorzubeugen.

Eine spezielle Verschlüsselungstechnologie von RSA, die von Kreditkartenriesen wie Mastercard und Visa sowie von Software-Herstellern wie Microsoft und Netscape verwendet wird, soll sichere Kartentransaktionen nun auch im direkten Online-Austausch gewährleisten. Diesen Ansatz hält auch Axel Pawlik, Chef des deutschen Internet-Anbieters Eunet in Dortmund, für "die bei weitem praktikabelste Lösung".

Doch damit ist das größte Hindernis noch nicht ausgeräumt: Handels- und Datenschutzrecht haben mit dem Wachstum des Cyberkommerz nicht mitgehalten. Dieser Aspekt, rügten die deutschen Datenschutzbeauftragten nach einem Gipfel der führenden Industriestaaten in Brüssel über die Zukunft der Informationsgesellschaft, sei völlig vernachlässigt worden. Zu befürchten sei etwa, daß Unternehmen zukünftig in Drittländern gigantische Kundendatenbanken einrichteten, um so den Datenschutz in den USA oder Europa zu umgehen.

Zudem fehle es, warnt Rechtsanwalt Michael Schneider von der Firma Communications Network International im hessischen Eschborn, "am notwendigen juristischen Unterbau". So werde bei Rechtsstreitigkeiten jeweils geprüft werden müssen, ob für Internet-Geschäfte überhaupt deutsches Recht gilt. Schneider: "Der Privatkunde trägt ein kaum noch kalkulierbares Risiko."

DER SPIEGEL 10/1995 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags.

Hypertext: Gerd Meissner

[[ Unarchived form element ]]