Ist die sogenannte "Medienrevolution" so neu?
Vollzieht sich diese Entwicklung global?
Sind die neuen Medienentwicklungen wirklich so bedrohlich?
Damit uns nicht hören und sehen vergeht
Unter den
Bedingungen zunehmender Beschleunigung und wachsender Unübersichtlichkeit,
wie Paul Virilio eindrücklich das gegenwärtige Zeitalter
definiert, bringen wir die unser Leben verwirrenden Entwicklungen
gern auf einfache Nenner.
Und je mehr uns die Folgen technologischer Innovationen verunsichern,
desto apodiktischer vertrauen wir auf Diagnosen! Für das
anbrechende Multimedia-Zeitalter könnten sie, diesem bedenklichen
Zug der Zeit folgend, etwa lauten: Bücher und das gedruckte
Wort sind out, TV, CD-ROM, Online und Internet sind in.
"In
zehn Jahren überrollt uns die Multimedia-Welle" überschreibt
der "Rheinische Merkur" diese Woche ein Interview mit
dem Verleger Hubert Burda. Marshall McLuhans einprägsame
Formel vom Ende der Gutenberg-Galaxis scheint Realität zu
werden.
Ein Schreckensszenario
der schönen neuen Medienwelt zeigt uns etwa folgende Mutationen
klassischer Bereiche der Lesekultur:
In der
Tat haben manche Theoretiker und Progagandisten der neuen Medienkultur
das Gutenberg-Zeitalter und die Bücher schon verabschiedet;
sie blicken gebannt und verzückt auf die vermeintlich uneingeschränkten
Segnungen des Computers.
Elektronische
Medien gelten den Innovatoren als das neue Leitmedium der Informationsgesellschaft,
als das non-plus-ultra der Medienkultur. Einer der rührigsten
Propagandisten in den elitären Zirkeln der neuen "Trendforscher"
ist Norbert Bolz. Der Professor für Medientheorie an der
Gesamthochschule Essen vertritt eine relativ simple Medien-Evolutionstheorie
nach folgendem Muster:
Erst hatten wir den Buchdruck, also das Gutenberg-Zeitalter, und
das war eindimensional. Denn wir mußten lesen: einen Buchstaben
nach dem anderen, ein Wort nach dem anderen, einen ganzen Satz
vor dem nächsten.
Danach bekamen wir den Film und das Fernsehen - und diese Medien
waren schon wesentlich komplexer, weil sie mehrere mediale Rezeptionsebenen
vereinigen. Denn nun mußten wir uns nicht mehr mit der linearen
Schrift begnügen, sondern hatten gleichzeitig Bild und Ton.
Aber auch dieses Film- und Fernsehzeitalter haben wir mittlerweile
hinter uns gelassen. Denn danach kam "Hypertext", also
der Computer, der uns mühsames Nachschlagen in Büchern
erspart und uns stattdessen alles mehrdimensional und auf Wunsch
präsentiert, was das Herz oder der Kopf begehren.
Doch dieses
"Hypertext" genannte Wunderwerk gilt dem Medientheoretiker
beileibe noch nicht als der allerletzte Schrei. Das vorläufige
Nonplusultra, also Stufe 4 der Medienevolution, heißt "Cyberspace":
Man zieht sich eine Art Tarnkappe mit integrierten Mini-Bildschirmen
über den Schädel und bewaffnet sich mit einem Datenhandschuh.
Und dann kann's losgehen: Dann wird eingetaucht in die "virtuellen
Wirklichkeiten"; man bewegt sich in imaginären, vom
Computer erzeugten Räumen, man entschwebt in die simulierte
Aura dieses "künstlichen Paradieses" des Computerzeitalters.
Aber wenn
wir jetzt diese fortschrittsgewisse Medientheorie befragen, was
das alles nun für's Lesen und für die Lesekultur bedeute,
heißt es im Brustton der Überzeugung: "Wir lernen
daraus, daß das Buch schon längst ein total veraltetes
Medium ist und allenfalls in ökologischen Nischen der Medienkultur
noch eine Überlebenschance hat. Wissen erwerben wir heute
mehrdimensional. Die eindimensionale Schrift- und Lesekultur hat
endgültig abgewirtschaftet. Re-alphabetisierungsbewegungen,
wie sie die Stiftung Lesen inszeniert, sind reaktionär. Ihr
habt alle noch nicht begriffen: Wir befinden uns mitten im Cyberspace!"
So weit
mein nicht ganz wortgetreues Resumé über diesen dernier
cri spekulativer Medientheorie. In diesem Szenario kann also jeder
an der "Extase der Kommunikation" teilnehmen (Baudrillard).
Man mag es als ironisch und überzeichnet empfinden, tatsächlich
werden solche Surrogate des Glücks, das den Menschen in der
Realität verweigert wurde, heute ernsthaft angepriesen. Auffällig
sind vor allem die Realitätsferne und die weitgehende Unüberprüfbarkeit
solcher Theoreme.
Zum Beispiel
bleibt jene Verheißung der Unterhaltungsindustrie, den bisher
passiven Konsumenten als interaktiven Teilnehmer in den kreativen
Prozess einzuschleusen, ein frommer Wunsch. Um nicht mißverstanden
zu werden: Ich habe überhaupt nichts gegen Cyberspace als
eine Art elektronischer Avantgarde, als eine vielleicht sogar
notwendige Zwischenstufe zur nächsten besseren, die uns zugleich Horizonte
auch humaner Anwendung öffnet, für Dinge also, die noch gar nicht
gedacht wurden. Auch natürlich deshalb nichts dagegen, weil
wir auf dem internationalen Markt den elektronischen Entwicklungen
etwa aus den USA oder aus Japan nicht ständig hinterherhecheln
dürfen. Wofür wir Cyberspace allerdings nicht brauchen
- als Ersatz für die Welt der Bücher, für das gedruckte
Wort, für das, was Neil Postman gestern metaphorisch mit Erzählungen umschrieben hat.
Mit der
CD-ROM-Software zum Beispiel haben wir eine glückliche Kombination
multimedialer Synergien zur Hand, Bilder, Ton, Text und Wort in
einem diese Medien gleichzeitig rezipierbaren und ihre Essenz steigernden
Multi-Medium - hier stimmt der Begriff. In dem zum internationalen
Markenzeichen avancierten Kürzel CD-ROM wurde schließlich
das Wort Lesen - und zwar als integrale Substanz - ausdrücklich
gerettet: "Compact Disc Read Only Memory."
Gewiß:
Die Kulturalisierung von Wirklichkeit durch die Simulation neuer
Komponenten von Wirklichkeit verändert die Vorstellung von
Realität. Ich frage aber: Wenn die virtuellen Welten der
Simulationstechniken Teil unserer Wirklichkeit werden und Rückwirkungen
auf deren Materialität haben, wird dann eine partielle Neudefinition
von Wirklichkeit fällig? Oder sind das nur modernistische,
informationstheoretische Aufgeregtheiten?
Ich glaube
nicht, daß traditionelle humanistische Bildung obsolet wird
angesichts überintelligenter, aber inhaltsloser Technik,
um nicht gleich von "informationsloser Hochinformatik"
zu sprechen. Wer weiß - vielleicht wertet die Hypertrophie
der Mittel im Vergleich zu ihren Zwecken sogar die traditionellen
Inhalte auf.
Verlassen
wir also die Sphäre der neuen Ideologien, und erlauben Sie
mir stattdessen, das Thema auf dem Boden meiner Erfahrungen zu
behandeln. Es sind dies diejenigen des Kulturellen, die mir aus
meinem Engagement als Kulturpolitiker und für die "Stiftung
Lesen" naheliegen, und ferner diejenige des Präsidenten
einer im internationalen Kulturaustausch engagierten Institution
"zur Pflege der deutschen Sprache im Ausland und zur Förderung
der internationalen kulturellen Zusammenarbeit".Ich erlaube
mir schließlich, das Thema mit einer gewissen Gelassenheit
anzugehen, die mir in meinem Alter ansteht.
Wir feiern in diesem Jahr hundert Jahre Film und Kino. Vor knappen
fünf Jahrzehnten hat das Fernsehen begonnen, allmählich
unsere Welt mit seinen Bildern zu überziehen. In der Bundesrepublik
Deutschland gab es 1954 61.500 Fernsehgeräte, und schon 25
Jahre später (1981) beflimmerten 21,5 Millionen Monitore
98 % aller Haushalte, so daß in unseren vier Wänden
die Welt zum globalen Dorf zusammenschrumpfte (Eurich/Würzberg
52).
Die jüngeren
elektronischen Medien haben in immer kürzeren Zeiträumen
weltweite Verbreitungsprünge erlebt. Kein Science-Fiction-Autor
der 60er Jahre hätte sich träumen lassen, daß
der Personalcomputer so rasch so einflußreich und ubiquitär
werden würde. Und so mögen uns noch manch andere Innovationen
überraschen, aber auch manche Hoffnungen enttäuschen.
Für Innovationen wurden laut Dr. Hagen Hultzsch (von Telekom) weltweit 1994 nicht weniger als vier Billionen investiert. Kaum jemand
hat den Flop von BTX vorausgesehen; und daß umgekehrt Internet
so rasch so erfolgreich werden würde, das hätten wir
vor wenigen Jahren auch nicht geahnt: Die Quantensprünge
der Innovationen verlaufen oft anders als erwartet, aber sie ereignen
sich immer wieder. Natürlich hat das alles die Welt und das
Denken der Menschen verändert.
Aber diese
Veränderungen sind doch auch nur Teil eines ohnehin historisch
einmaligen Prozesses exponentiellen Wachstums, das ohne historisches
Vorbild ist: Nicht nur die Bevölkerung, auch Produktion,
Ressourcenverbrauch, Immissionen oder Abfall haben in den wenigen
Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Wachstumsraten erreicht,
die in der Weltgeschichte einmalig sind. Daß die an einem
solchen Wachstumsprozess beteiligten Faktoren sich mit außerordentlicher
Geschwindigkeit entwickeln, das gilt auch für Information
und Kommunikation. Gegenwärtig leben und arbeiten gleichzeitig
mehr Wissenschaftler als in der gesamten Menschheitsgeschichte,
das Wissen verdoppelt sich in immer kürzeren Zeiträumen
usf.;
Da Wachstumskurven
in vielen Bereichen exponentiell verlaufen, können die Prozesse,
auf die sie sich beziehen, nicht unendlich fortgesetzt werden.
Gleichzeitig sehen wir heute deutlicher als noch vor 1989: Die
Geschichte ist keineswegs zu Ende; sie verläuft vielmehr
wie eh und je konflikthaft und diskontinuierlich - mit Menschen,
die weder in marktwirtschaftlichen Prozessen, noch in anderen
Richtungen zu "neuen Menschen" erziehbar sind oder in
einem therapeutischen Medienprozeß umgeprägt werden
wollen. So ist auch die neue anthropologische Qualität der
Kommunikation zu relativieren.
Die Entwicklungsgeschichte
des menschlichen Gehirns verläuft wesentlich langsamer als
die der seit dem Neolithikum sich herausbildenden Kulturtechniken.
Genetisch sind jene Hirnregionen, die beim Lesen beansprucht werden,
viel älter als Schrift und Buch, wie wir von den Neurobiologen
erfahren. Die Wissenschaftler fragen daher zu Recht, was denn
früher in diesen Hirnregionen wohl geschah.
"Um herauszufinden,
welche Aufgaben während der 'voralphabetischen' Phase jenen
Hirnregionen zukamen, die im Gehirn des heutigen Menschen für
Lesen und Schreiben verantwortlich sind", ist nach Otto-Joachim
Grüsser "eine nähere neurobiologische Analyse des Lesens
und Schreibens erforderlich." (Grüsser, Otto-Joachim: Neurobiologie
und Kulturgeschichte des Lesens. In Hoffmann S. 167 ff):
"Für
die frühen Wildbeuter (Jäger und Sammler hat man sie
einmal genannt) waren diese Hirnregionen vermutlich zum Spurenlesen
wichtig." Grüsser weiter: "Die Hypothese
der gemeinsamen neurobiologischen Wurzeln von Lesen und Spurenlesen
wird auch durch ähnliche Lehrmethoden bekräftigt. Die
Ureinwohner Australiens ('Aborigines') beginnen ihre Kinder genau
in jenem Alter, in dem in unserer Kultur Lesen und Schreiben in
der Schule gelehrt wird, im differenzierten Spurenlesen zu unterrichten
- und zwar mittels einer systematischen visuell-taktilen Methode.
Wer nicht bis zum 14.-16. Lebensjahr die Kunst des Spurenlesens
erlernt hat, der hat große Schwierigkeiten, sie je zu erwerben
.."
Das archaische
Spurenlesen entspricht menschheitsgeschichtlich also dem heutigen
Lesen; und beim Umgang mit modernen elektronischen Informationsmedien
und Kommunikationstechniken sind kreative und intelligente Wahrnehmungs-
und Selektionsprozessse ebenso nötig wie beim Spurenlesen.
Wie der Saarbrücker Medienpsychologe Peter Winterhoff-Spurk
betont, wußten Menschen schon immer aus einer "Reizüberflutung"
auszuwählen, und diese Fähigkeit ist auch für die
Orientierung im modernen Datendschungel zentral.
Zwar ist
das traditionelle Spurenlesen für den modernen Asphaltcowboy
und Internet-Surfer entbehrlich geworden, nicht aber das Lesen
und die komplexeren Orientierungsleistungen. Selbst Print-Medien
werden für diese Species keineswegs überflüssig - schauen Sie sich einmal
das Angebot an Computer-Zeitschriften in jedem Bahnhofsbookshop
an. Und wer spricht etwa noch vom papierlosen Büro? Auch
die Computersprache setzt Lesefähigkeit voraus.
So neu
ist das alles also nicht. Die elektronischen Innovationen verlangen
ähnliche Gestaltungsimpulse und Auswahlleistungen wie früher.
Neu hingegen und bis jetzt völlig unbewältigt sind die
zur gleichen Zeit sichtbar werdenden Dimensionen des Wachstums
in ökonomischen, demographischen und materiellen Prozessen;
diese sind aber nicht allein und nicht direkt von den neuen Technologien
abhängig. Mit diesen gigantischen Dimensionen fertig zu werden, dürfte wesentlich
schwieriger sein als die kulturelle Bewältigung der neuen
Technologien.
Anderes gehört nicht weniger relativiert. Natürlich
leben wir virtuell im global village, weil es theoretisch möglich
ist, alle Nachrichten zu jeder beliebigen Stunde von jedem Ort
an jeden anderen Punkt der Welt zu transportieren. Dabei handelt
es sich allerdings in der Praxis doch nur um eine inselhafte Vernetzung.
Zwar sind die Empfangsgeräte für die moderne Massenkommunikation
ubiquitär verfügbar und werden auch entsprechend genutzt;
Rezeption und individuelle Verarbeitung aber sind in den verschiedenen
Kulturen höchst unterschiedlich.
Nicht alles,
was in modernen Soap-Operas und Serienkrimis gezeigt wird, ist
allen gleiches Vorbild für das Alltagsleben - nicht einmal
bei uns. Der Siegeszug der hierzulande und anderswo so erfolgreichen
Fernsehserien "Dallas" und "Denver" endete
in Japan. Dort waren die Serien ein totaler Flop. Offenbar fehlte
dieser fernöstlichen Kultur das nötige Verständnis
für das Spiel um Intrigen, Macht und Geld, an dem wir uns
jahrelang delektieren konnten. Vielleicht war Japan gegen diese
Art Lebensphilosophie populistischer Prägung aber auch deshalb
immun, weil es im Lande Nippons so gut wie keinen Analphabetismus
gibt.
Generell
gilt: Wenn die sozialen Rahmenbedingungen nicht stimmen und mentale
Bezugspunkte fehlen, an denen sich soziales Leben und Moral unbewußt
orientieren, dann wirkt das oktroyierte Rollenverständnis
aus den Hollywoodfactories der Industrieländer wie Erzählungen
von einem anderen Stern. "TV is bigger than life" -
aber möglicherweise in der Regel nur für unverschuldete
Analphabeten, und vielleicht auch nur für solche Zeitgenossen,
deren Kultur schon von der Erlebnisgesellschaft destruiert würde.
Auch meine
jüngsten Erfahrungen aus Westafrika, einer Region ohne Schulpflicht,
widerlegen entsprechende Theorien der ästhetischen Wahrnehmung
und der medientheoretischen Rezeption als übertragbar. Wie
können Kunst oder laufende Bilder Erkenntnisse wecken, wie
Thomas Mann dies erhoffte, wenn der Betrachter deren direkten oder
verborgenen Code nicht entziffern kann. Man könnte vermuten,
daß eine Vereinheitlichung in Richtung auf eine von den
modernen Massenmedien geprägte internationale Kultur ein
längerfristiger Prozeß ist, in den im Laufe der Zeit
viele Modifikationen einfließen. Aber was dabei herauskäme,
das wäre längst keine lineare Fortsetzung unserer eigenen
Entwicklung mehr, und auch deswegen ist Skepsis gegenüber
linearen Vereinfachungen angesagt.
Ein solcher
permanenter Prozeß hat eine gesellschaftliche, eine soziale
und eine humane Dimension: Einer partiellen und selektiven Universalisierung
von Information und ökonomischer Globalisierung steht nach
dem Ende der Ost-West-Bipolarität eine partielle Regionalisierung
gegenüber. Das hat zur Folge, daß angesichts der manifesten
Nichtübertragbarkeit der Lebensweise moderner Industriegesellschaften
auf die ganze Welt Werte wie Differenz, Region und "Provinz"
aufgewertet werden.
Im Materiellen
entspricht dem die neue Bedeutung des informellen Sektors neben
dem global vernetzten Weltmarkt. In den modernen Megastädten
des Südens haben sich dank eines Mix von Transfer-Mitteln
und Subsistenz-Produktion, von Lohnarbeit, Deregulation und vorstaatlichen
sozialen Netzen weite und effiziente Netzwerke sozioökonomischen
Handelns herausgebildet; deren Kennzeichen sind ein unterkapitalisiertes,
arbeitsintensives und unreguliertes Wirtschaftssegment.
Ohne sie hätten jene Teile der Bevölkerung längst die
Geduld verloren, denen die Weltbankberichte ein Leben unterhalb
des Existenzminimums bescheinigen. Aber in den Weltmarkt sind
sie nur teilintegriert, und eben dieses Beharren auf den eigenen
regionalen, lokalen Ressourcen ist ihre Überlebensvoraussetzung.
Wie schnell die Situation sich ändert: 1994 waren die Mediendiskussionen
noch beherrscht von jener populistischen Rolle, die Silvio Berlusconis
"in Europa einzigartiges Medienimperium" (Clement) und
dessen Wahlkampf auf dem Bildschirm spielte. Aber Populismus kannte
auch Shakespeares Antonius schon, als er von Brutus als dem ehrenwerten
Manne sprach. Und Hugenbergs massenwirksames Presse-Imperium nobilitierte
Hitlers Rassenwahn und verhalf ihm auch ohne Fernsehen zur Regierungsgewalt,
während Berlusconis Staats-Macht von den Italienern rasch
wieder ausgehebelt wurde.
Meine Damen
und Herren, seit es Bücher gibt, kennen wir auch die Warnungen
vor der angeblich verderblichen Lese-Sucht. Und so streiten sich
im breiten Medienfeld schon lange Apokalyptiker und integrierte
Optimisten. Wenn immer es um fatale Folgen des Fernsehens und
des Computers geht, dann ist die Kulturkritik in ihrem Element.
Das gilt etwa auch für die Diskussion um negative Auswirkungen
auf jugendliche Genießer und User.
Glücklicherweise
besitzen wir inzwischen genügend empirisches Material, um
realistischer einschätzen zu können, was uns an generativen
Potenzen der elektronischen Medien noch zu schaffen machen wird.
So schreiben zum Beispiel Waldemar Vogelgesang und Thomas A. Wetzstein
über die Vervielfältigung der Kommunikation in Computerkulturen.
(In: Widersprüche,Heft 49/1993, 35-43): "Die Vielfalt
der Nutzungs- und Codierungsmöglichkeiten, die der Computer
eröffnet, führt zur Herausbildung von neuen Spezialkulturen"
- einhergehend mit einer Individualisierung personaler und medialer
Kommunikation, "Szene"-Treffs und Reproduktions-variablen
bzw. Sozialisationsmöglichkeiten" - in begrenzter
Weise führt dies sicher auch zur Endogamie, also zur Einsiegelung
je spezifischer Lebensweisen. Einem relativ souveränen Umgang
der Jugendlichen und "Technik-Freaks" mit den neuen
Möglichkeiten der Informationsgesellschaft stehen kulturkritische
Ängste vor der Technik gegenüber, die viele schon ab 30/40 plagen, wie wir gestern hörten.
Euphorie
und Ängste mischen sich auch in der Einschätzung der
Mediennutzung. "Digitale Brandsätze" findet Michael
Charlier im Angebot der Medien: "Zum Beispiel 'The
Terrorist's Handbook', verfaßt von einem 'Unknown Author'.
Nach kaum einer Minute Ladezeit liegt der Text ... auf der Platte:
Er enthält in peinlich politisch korrekter Sprache kochbuchartige
Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur Anfertigung von Sprengstoffen,
Bombengehäusen sowie Einbrecherwerkzeugen ..."
(Charlier, Michael: Digitale Brandsätze. Frankfurter Rundschau
v. 27.5.1995)
Und das
auf dem Server eines gemäßigt alternativen, aus öffentlichen
Mitteln mitfinanzierten niederländischen Kommunikationsprojekts
mit gutem Ruf. Wer sich freilich über dergleichen Handlungsanleitungen
aufregt, der sei daran erinnert, daß in jeder Universitätsbibliothek
militärtechnische Fachliteratur en masse verfügbar ist,
die jedermann alle notwendigen Informationen zum Do-it-yourself
anbietet.
Wir erinnern
uns: Vor etwa 15 Jahren machten nordamerikanische Studierende
von sich reden, als sie aus allgemein zugänglicher Literatur
die Konstruktionspläne für Atombomben zusammengestellt
hatten. Sie hatten natürlich kein waffenfähiges Material
und wollten auch keine Bombe bauen. Aber das Wissen verschwindet
nicht und solange es Kernkraftwerke gibt, bleibt auch das potentielle
Material verfügbar.
Im Ambivalenzkonflikt
zwischen Wohl und Wehe der neuen Medien ist aber auch auf reale
Chancen für bestimmte Gruppeninteressen hinzuweisen. Was
wir mit Hilfe von Internet, Datenautobahn und was sonst noch alles
auf uns zukommen mag, zur Verfügung haben, eröffnet
Chancen zu informationellen Subkulturen für beliebige Zwecke.
Das spielt
sich technisch auf einer neuen Stufe ab, sorgt aber auf gleiche
Weise wie andere privilegierte (oder einfach nur aufwandsabhängige)
Zugänge zu genaueren Kenntnissen für eine Ausdifferenzierung
der Wissensebenen und der Informationskulturen. Darin sind eine
Menge neuer Chancen enthalten; denken wir nur daran, daß
diese Zugänge sich jeder totalitären Kontrolle entziehen
und über Grenzen hinweg funktionieren.
Neue Denkwege
können auch zu alternativen Denkweisen führen. Diese
Potenz steigert die Souveränität der Individuen bezüglich
der Nutzung von Informationen und der Teilhabe an Programmen:
Jeder macht sein eigenes Programm - so der Bamberger Soziologe
Gerhard Schulze letzten September auf einem wissenschaftlichen
Symposium für Dieter Stolte - "lector in fabula"
ist jeder potentielle Nutzer in den interaktiven Medien, d.h.
der Leser der Geschichte fühlt sich als Teil der Story.
Wer Internet
nicht kennt, macht sich kaum eine Vorstellung von der neuen Vielfalt
der verschiedensten Kommuikationsformen, in denen sich gut tummeln
läßt, sofern die jeweiligen Rahmenbedingungen stimmen.
Neil Postman hat Recht mit seiner Warnung vor einer "gefährlich
naive(n) Begeisterung für neue, faszinierende Technologien"
[Neil Postman: Selbstverteidigung gegen die Lockungen der technologischen
Beredsamkeit. In: Hoffmann, Hilmar (Hg.): Gestern begann die Zukunft.
Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung der Medienvielfalt.
Darmstadt 1994, 17-26, 17].
Wie so
oft in der jüngeren Geschichte kam zuerst die neue Technik,
und dann erst begann die Suche nach Inhalten, möglichen Zwecken
und Nutzungen dafür. In diesem Wechselspiel zwischen technologischer
Forschung und Entwicklung auf der einen Seite, an den Verwertungsinteressen
und den Marktchancen relevanter Industrien auf der anderen hat
sich, wie so oft, die Politik in der Position des armen Hasen
im Rennen zwischen Hase und Igel befunden: Sie sollte im wesentlichen
legitimieren, was andere ausgebrütet hatten.
Von Freiräumen,
wie er sie im Selbstverständnis liberaler Demokratien für
die gemeinschaftliche Gestaltung von Lebensverhältnissen
eingeschrieben sind, war da kaum mehr die Rede. Darauf käme
es aber gerade an. Interessanter, diskutierenswerter als die von
den Kulturkritikern unterstellten gleichsam automatischen Folgen
der neuen Medien ist das, was an politischem Rahmen vorgegeben
wird oder was voluntaristischer Orientierung unterliegen kann
- zumal der Gestaltungsspielraum doch nicht völlig von Sachzwängen
aufgezehrt wird.
Interessant
scheint mir dabei, was die Experten bezüglich der Unterschiede
zwischen dem amerikanischen und dem mitteleuropäischen System
herausgefunden haben: In den deutschen Strategien, so Hans J.
Kleinsteuber, geht es "im Kern um eine Kanalvervielfachung
mit einem rudimentären Rückkanal, vor allem für
Abrechnungszwecke". Mehr sei wegen der Einseitigkeit
der Satellitenkommunikation nicht realisierbar.
In den
USA wird dagegen vor allem in die zentralen Computer investiert,
in die sogenannte Medien-Server. Das weist in Richtung Internet
- weil "in den USA eine Industriekoalition die digitale
Technik nutzen will, um den kommerziellen Networks Zuschauer und
Märkte zu entziehen", während genau diese
bei uns die digitale Technik einführen.
Im Ergebnis
scheint das US-Bild schillernd und widersprüchlich, voll
von nicht eingelösten Versprechungen und kommerziellen Hoffnungen.
Dabei ist allerdings festzustellen, daß Technologies of
Freedom zumindest dosiert eine Chance haben werden - nicht weil
die Kommunikationsindustrie die Bürger beglücken möchte,
sondern weil es trefflich ins unternehmerische Kalkül paßt.
Auch in
Deutschland gibt es Kräfte, die sich einerseits zwar dessen
bewußt sind, daß sich in der Leonardo-Welt die Modernisierung
nicht aufhalten läßt, wir diese andererseits aber wenigstens
zivilisieren sollten. In der Einschätzung von Peter Glotz
sind es die Europäer, die eine Moderatorenrolle für
die vielfältige Entwicklung der Individual-, Geschäfts-
und Massenkommunikation übernehmen müssen - also für
die Entwicklung elektronischer Lernsysteme. Dazu sei eine technologiepolitische
Vision notwendig, und zwar eine, die soziale und moralische Ideen
formulierte; als Beispiel nennt er die Offenheit und Zugänglichkeit
"der wichtigen Medien und Netze, den Schutz vor einseitiger
Medienmachtpolitik, die Gewährleistung informationeller Selbstbestimmung"
und - möchte ich hinzufügen - auch die Ermöglichung
von solchen Kommunikationsprozessen, die sich materiell
nicht rechnen (Glotz, Peter: Die Telekratie bändigen!
In: Die Woche v. 15.9.1994).
Es käme
darauf an, eine "Media- und Computer-Literacy"
zu entwickeln als gesellschaftliche Fähigkeit des Umganges
mit den Medien. Die Stiftung Lesen in Mainz versucht dies, bezogen
auf die Lesefähigkeit, seit Ihrer Gründung und in vielem
sogar erfolgreich. Schon in der Schule müßte entschieden
mehr für diese Art der Vermittlung auch für die geistige Übereignung der
Medieninhalte getan werden.
Dem mit
Abstand wichtigsten Faktoren für die Einübung von Regeln
der Mediennutzung "sind solche des Sozialmilieus, in
welchem einer aufwächst ... Die Ungleichheit unserer individuellen
Kultur- und Kompetenzniveaus nimmt in einem sich selbst verstärkenden
Prozeß zu. Die Probleme, die sich daraus ergeben, sind von
einer Größenordnung, die wenig zuversichtlich macht,
daß unsere verdienstvolle Medienerziehung hier als Remedium
ausreicht", wie wir bei Hermann Lübbe lesen.
[Lübbe, Hermann: Mediennutzungsethik. In: Hoffmann, Hilmar
(Hg.): Gestern begann die Zukunft. Entwicklung und gesellschaftliche
Bedeutung der Medienvielfalt. Darmstadt 1994, 313-318, 317}
Ich denke,
wir sollten die Politik nicht so leicht aus der Verantwortung
entlassen. In der hochbrisanten aktuellen Situation sind diverse kulturpolitische
Aufgaben formuliert und generell auch solche der kulturellen Öffentlichkeiten. Packen wir's an!
Bezugspunkt aller Wirtschaft ist die menschliche Existenz. Heute
wird es uns nicht um den materiellen Naturstoffwechsel allein
gehen, sondern um die Sicherung einer menschenwürdigen und
zukunftsfähigen Existenz in allen Bereichen. Diese Sicherung
ist angesichts der "globalen Probleme" in der Perspektive
nur im Weltmaßstab denkbar, sollen nicht in Zukunft Konflikte
und Verantwortungslosigkeiten die Lebenssphäre zerstören.
Die Skepsis
bezüglich der lebensweltlichen Wichtigkeit der Medien ist
alt, wir können sie schon von Francesco Petrarca in der Frühphase
des Humanismus genährt finden: In seinem Dialog "Von
der Bücherfülle" sinniert er: "Bücher
haben manche ins Wissen, manche in den Wahnsinn geführt ...
Daher will der Weise die Dinge nicht reicher, sondern in ausreichender
Fülle."
Ein Leben
in Würde und Freiheit zu sichern, das muß der letzte
Zweck des Wirtschaftens ebenso wie der Nutzung der Kommunikationstechnik
sein. Deren wichtigste materielle Bestimmungen werden in allen
Gesellschaften kulturell definiert, nicht materiell. Mir scheint,
daran läßt sich auch in der Mediendiskussion gut anknüpfen.
Ihr humaner
Sinn hätte sich darin zu beweisen, daß die neuen Medien zur Souveränität
der Menschen beitragen, und die wird im Kulturellen definiert.
Als Schuhlöffel für neue Medien-Märkte ist mir
die kulturelle Sphäre allerdings zu schade. Ich wehre mich auch gegen eine
Definition von gutem und richtigem Leben, die allein von den Verwertungsbedürfnissen
eines permanenten Wachstums diktiert wird.
Nicht die
Technik, nicht die Wirtschaft, sondern die Kultur im weitesten
Sinne ist es, die eine Gesellschaft und ihre Ökonomie ebenso
wie ihre Produkte und ihre Menschen interessant und attraktiv
macht. Was aber sind starke, überzeugungsfähige und
attraktive Kulturen?
Nicht,
weil seine Wirtschaft besonders leistungsfähig war, sondern
weil seine Kultur mit ihren Werten, Ideen und Praktiken den Rahmen
lieferte für ein Verständnis von Leben und Geschichte,
bei dem die bewußte und zielgerichtete Gestaltung von Natur,
Lebenswelt und Gesellschaft einen zentralen Platz hatte, konnte
einst Frankreichs Aufklärung eine zeitlang Vorbild für
die Welt werden. Weil sie eine Allianz eingegangen war mit einer
fortschrittsfreundlichen, wachstums- und expansionsfreudigen Kultur,
die noch nichts von den Grenzen des Wachstums wußte.
Nur deswegen
konnten dann später Deutschlands Technik und die Ergebnisse
seiner leistungsfähigen und innovativen Forschung und Entwicklung
weltweit anerkannt werden - nicht unbedingt mit den positivsten
Folgen, wenn wir allein an die Kriege denken, die vornehmlich von expansionsfreudigen
Kulturen dieser Art ausgingen.
Heute stehen
andere Überlebensaufgaben an, und derjenigen Kultur und Gesellschaft,
die sich in ihrem humanen Kapital am überzeugendsten darstellt, wird es an Attraktivität
und Erfolg nicht mangeln. Zukunft kann nicht mehr allein durch
Technik und Elektronik, schon gar nicht durch Machtkampf im "Krieg
der Zivilisationen" (Huntington) gesichert werden.
Wenn wir
denn, wie eingangs zitiert, in einer welthistorisch so besonderen
Situation leben, jedenfalls was die materiellen Indizes betrifft,
dann muß auch Zukunft anders gedacht werden als in der Fortsetzung linearer
Trends. Zukunftsinteressant sind Lebensformen und
kulturelle Leitbilder, für die kompatible sozialkulturelle
Strukturen entwickelt werden. Wer dieses Feld fantasievoll besetzt,
der kann darauf auch erfolgreich wirtschaften - so wie einst im
Feld des euphorischen Fortschrittsdenkens.
Die Probleme
liegen auf der Hand: Von den derzeit auf der Erde lebenden Menschen
sind in der Dritten Welt etwa 2,5 Milliarden auf dem Sprung, mit
Wachstumsraten von um die 10 % jährlich alles das nachzuholen,
was wir in den letzten hundert und mehr Jahren entwickelt haben.
Da ihnen
nur "die unökologisch gestaltete Dinosauriertechnik
zur Verfügung steht und die Industrienationen sich gegenseitig
mit Angeboten überbieten, wird es wohl zwangsweise zum größten
Verbrauch von Natur kommen, den die Menschheit je verursacht."
So jedenfalls die pessimistische Prognose von Friedrich Schmidt-Bleek vom
Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie (Werkbund-Katalog),
bei dem wir weiter lesen: "Da signifikante soziale
Veränderungen normalerweise ein bis zwei Generationen in
Anspruch nehmen, muß wohl auch für den ökologischen
Strukturwandel in ähnlichen Zeiträumen gedacht werden."
Nach offiziellen Schätzungen benötigen wirklich neue technische Lösungen 5 bis 20
Jahre zur Reife. Es könnte sein, daß sich in der nichtmateriellen, in der virtuellen
Welt der Informationsgesellschaft entsprechende Chancen auftun, um
Konsum und Lebensqualität auf virtueller Ebene, mit einem
Minimum an Ressourcenverbrauch in Einklang zu bringen. Dieser freilich ist wegen des Geräte-
und Infrastrukturbedarfs größer ist als wir denken,
aber dafür schaftt er eben auch zusätzliche Arbeitsplätze.
In dieser
Richtung erkennt Rolf Eckmiller euphorisch einen expansionistischen
Weg der Menschheit mit neuronalen Netzen, wie er das feinnervige Technogespenst nennt. "Gerade in
der Phase, in der es auf der Erde gefährlich eng, gefährlich
schmutzig und lebensgefährlich wird, schafft die Menschheit
leistungsfähige Technologien, um komplexe Systeme in den
Griff zu bekommen ..." (Kultur und Technik im 21.
Jahrhundert, 101)
Phantasien
dieser Art ließen sich in verschiedenster Weise ausgestalten, aber wohl nur insofern, als deren Produktion vermarktbar wäre. Hier sind nicht nur von Künstlern und Kulturpolitikern Ideen gefordert, sondern von der Politik generell. Withschaft und Banken mit moralischem Selbstverständnis fänden viel Beifall mit der offensiven Förderung entsprechender Impulse.
Ein Leben mit Künsten und Kultur für alle, mit Kommunikationswegen, die nach Herders Worten zur Humanität führen und die Lebensqualität steigern - und dies alles bei
niedrigstem Ressourcenverbrauch - das könnte eine Perspektive
sein.
Die Gesellschaft der kommenden Jahrzehnte wird auf nichts weniger verzichten können als auf das Lesen, wenn sie sich weiterhin als kulturell definiert.
Allzu leicht
wird angesichts verbreiteter Medieneuphorie übersehen, daß
Lesen, Lesefertigkeit und Leselust erst die Grundlagen schaffen, elektronische und audiovisuelle Medien optimal zu nutzen, nicht als passiver Konsument, sondern als reflektierender Rezipient. Schon Goethe sah einen "groben Unterschied" darin, "ob ich lese zu Genuß und Belebung oder zur Erkenntnis und Belehrung" (Maximen).
Mit Ausbreitung der Medien und zunehmender Nutzung hatte sich
ja einmal die Hoffnung einer "Demokratisierung des Wissens"
verbunden, die schon Walter Benjamin über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks zu erreichen hoffte. Mehr Informationen als bisher und ihre bessere Zugänglichkeit
sollten dazu beitragen, die aufgrund unterschiedlicher Bildung
bestehenden Wissensdefizite zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen
"auszugleichen".
Wie empirische
Untersuchungen nachweisen, hat diese Hoffnung leider getrogen.
Es zeigt sich nämlich, daß nur wer liest, auch die
Informationen der audiovisuellen Medien besser verarbeitet, also
Fernsehen ebenso wie Computer, Bildschirmtext oder Cyber-Space
gewinnbringender rezipieren kann. Audio-Visuelle Massenmedien
können also bildungsbedingte Wissensunterschiede und Sozialisationsschäden nicht kompensieren.
Der Begriff Bildung korrespondiert auch heute noch unmittelbar
mit dem Begriff Lesen bzw. mit Lesefertigkeit.
Das Beherrschen
der Kulturtechnik Lesen bleibt demnach nicht ohne Einfluß
auf schulische und akademische Leistungen und ist deshalb auch ein wesentliches Kriterium bildungsabhängiger Karrieren zu würdigen.
Halten
wir also fest: Auch im Multimedia-Zeitalter bleibt die Lesefähigkeit
die am wenigsten bestreitbare Kulurtechnik für die Partizipation
auch an den Ressourcen aller übrigen Medien und Künste. Da wir uns nicht,
wie die Computer mit binären Zeichen direkt verständigen
können, bleibt der alphanumerische Code für uns auch
in Zukunft unentbehrlich.
Das bei
aller Faszination die elektronischen Perspektiven das bedruckte
Papier und die Kulturtechnik nicht obsolet machen - darauf hat
der Münchener Verleger Klaus G. Saur hingewiesen. In seinen Thesen zum elektronischen
Publizieren hält er gegen den euphorisierenden Techno-Trend fest:
Spricht
aus Saur's Prognosen mehr Skepsis als Euphorie, so erinnert Konkurrent
Hubert Burda daran, daß erst morgen die Konturen dessen sichtbar
werden, was der Schritt von der analogen zur digitalen Kommunikation
für die Verlage letztendlich bedeutet. Seine Hoffnungen sind hoffentlich nicht als eine Verneinung der Tatsache zu werten, daß die Lesefähigkeit die Voraussetzung für seine Desiderate sind.
Die heutigen Veränderungen
in den eigendynamischen Gesetzen der Kommunikation seien revolutionär,
und niemand könne die Dimensionen dieser Zeitenwende beziffern.
In den Staaten etwa sei Multimedia heute schon ein Milliarden-Geschäft,
in Europa stünden wir erst am Anfang.
Hubert
Burda stützt sich auf nicht näher identifizierte "Seriöse
Prognosen", wonach Europas Großfamilie 1998 bereits 50
Millionen Personalcomputer haben werden. Für uns sei entscheidend,
daß wir die Veränderungen in der Kultur der Kommunikation
hellwach und offen annähmen, weil Multimedia den klassischen
Print-Verlagen die Zukunft öffnen würde.
Gruner
& Jahr-Chef Gerd Schulte-Hillen hielt unlängst auf dem
Deutschen Kommunikationstag dagegen, weil wer mitreden und mitentscheiden
wolle auch in Zukunft aufs Lesen angewiesen bleibe. Fernsehen und Radio
würden mehr und mehr zu "Hintergrundmedien", weil
die Printmedien "Schneisen in das Dickicht der Überinformation
schlagen". Wie wir sehen, stecken wir tief im Dilemma diverser Prognosen,
deren kompetente Evaluierung der Computer bisher jedenfalls nicht
zur neuen Gewißheiten hochrechnen konnte.
Meine Damen
und Herren, von Isaac Newton stammt der Satz: "Wenn
ich weiter gesehen habe als andere, so deshalb, weil ich auf den
Schultern von Riesen stehe". In Abwandlung dieser
weisen Einsicht müßten alle Exponenten des neuen Medienzeitalters
einräumen, daß sie auf Gutenbergs Schultern stehen
- und zwar fest, sicher und noch auf mehr als absehbare Zeit.
Lassen Sie mich schließen mit dem ebenso schönen wie
nachdenklich machenden Satz der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman:
"Ohne Bücher bleibt die Geschichte stumm,
die Literatur sprachlos;
die Wissenschaft verkrüppelt,
das Denken kommt zum Stillstand.
Bücher sind Zeugen des Wandels,
sind Fenster zur Welt,
sie sind Banken des Geistes.
Bücher sind gedruckte Humanität."