hide random home http://www.deutsche-bank.de/db/ahg/hoffmtxt.htm (Einblicke ins Internet, 10/1995)

Lesen - Hören - Sehen - Lernen.
Die neue Masse elektronischer Massenmedien.


Hilmar Hoffmann

Einführung

Ist die sogenannte "Medienrevolution" so neu?

Vollzieht sich diese Entwicklung global?

Sind die neuen Medienentwicklungen wirklich so bedrohlich?

Wie wichtig ist Multimedia?

Damit uns nicht hören und sehen vergeht


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Einführung

Unter den Bedingungen zunehmender Beschleunigung und wachsender Unübersichtlichkeit, wie Paul Virilio eindrücklich das gegenwärtige Zeitalter definiert, bringen wir die unser Leben verwirrenden Entwicklungen gern auf einfache Nenner.

Und je mehr uns die Folgen technologischer Innovationen verunsichern, desto apodiktischer vertrauen wir auf Diagnosen! Für das anbrechende Multimedia-Zeitalter könnten sie, diesem bedenklichen Zug der Zeit folgend, etwa lauten: Bücher und das gedruckte Wort sind out, TV, CD-ROM, Online und Internet sind in.

"In zehn Jahren überrollt uns die Multimedia-Welle" überschreibt der "Rheinische Merkur" diese Woche ein Interview mit dem Verleger Hubert Burda. Marshall McLuhans einprägsame Formel vom Ende der Gutenberg-Galaxis scheint Realität zu werden.

Ein Schreckensszenario der schönen neuen Medienwelt zeigt uns etwa folgende Mutationen klassischer Bereiche der Lesekultur:

In der Tat haben manche Theoretiker und Progagandisten der neuen Medienkultur das Gutenberg-Zeitalter und die Bücher schon verabschiedet; sie blicken gebannt und verzückt auf die vermeintlich uneingeschränkten Segnungen des Computers.

Elektronische Medien gelten den Innovatoren als das neue Leitmedium der Informationsgesellschaft, als das non-plus-ultra der Medienkultur. Einer der rührigsten Propagandisten in den elitären Zirkeln der neuen "Trendforscher" ist Norbert Bolz. Der Professor für Medientheorie an der Gesamthochschule Essen vertritt eine relativ simple Medien-Evolutionstheorie nach folgendem Muster:

Erst hatten wir den Buchdruck, also das Gutenberg-Zeitalter, und das war eindimensional. Denn wir mußten lesen: einen Buchstaben nach dem anderen, ein Wort nach dem anderen, einen ganzen Satz vor dem nächsten.

Danach bekamen wir den Film und das Fernsehen - und diese Medien waren schon wesentlich komplexer, weil sie mehrere mediale Rezeptionsebenen vereinigen. Denn nun mußten wir uns nicht mehr mit der linearen Schrift begnügen, sondern hatten gleichzeitig Bild und Ton. Aber auch dieses Film- und Fernsehzeitalter haben wir mittlerweile hinter uns gelassen. Denn danach kam "Hypertext", also der Computer, der uns mühsames Nachschlagen in Büchern erspart und uns stattdessen alles mehrdimensional und auf Wunsch präsentiert, was das Herz oder der Kopf begehren.

Doch dieses "Hypertext" genannte Wunderwerk gilt dem Medientheoretiker beileibe noch nicht als der allerletzte Schrei. Das vorläufige Nonplusultra, also Stufe 4 der Medienevolution, heißt "Cyberspace": Man zieht sich eine Art Tarnkappe mit integrierten Mini-Bildschirmen über den Schädel und bewaffnet sich mit einem Datenhandschuh. Und dann kann's losgehen: Dann wird eingetaucht in die "virtuellen Wirklichkeiten"; man bewegt sich in imaginären, vom Computer erzeugten Räumen, man entschwebt in die simulierte Aura dieses "künstlichen Paradieses" des Computerzeitalters.

Aber wenn wir jetzt diese fortschrittsgewisse Medientheorie befragen, was das alles nun für's Lesen und für die Lesekultur bedeute, heißt es im Brustton der Überzeugung: "Wir lernen daraus, daß das Buch schon längst ein total veraltetes Medium ist und allenfalls in ökologischen Nischen der Medienkultur noch eine Überlebenschance hat. Wissen erwerben wir heute mehrdimensional. Die eindimensionale Schrift- und Lesekultur hat endgültig abgewirtschaftet. Re-alphabetisierungsbewegungen, wie sie die Stiftung Lesen inszeniert, sind reaktionär. Ihr habt alle noch nicht begriffen: Wir befinden uns mitten im Cyberspace!"

So weit mein nicht ganz wortgetreues Resumé über diesen dernier cri spekulativer Medientheorie. In diesem Szenario kann also jeder an der "Extase der Kommunikation" teilnehmen (Baudrillard). Man mag es als ironisch und überzeichnet empfinden, tatsächlich werden solche Surrogate des Glücks, das den Menschen in der Realität verweigert wurde, heute ernsthaft angepriesen. Auffällig sind vor allem die Realitätsferne und die weitgehende Unüberprüfbarkeit solcher Theoreme.

Zum Beispiel bleibt jene Verheißung der Unterhaltungsindustrie, den bisher passiven Konsumenten als interaktiven Teilnehmer in den kreativen Prozess einzuschleusen, ein frommer Wunsch. Um nicht mißverstanden zu werden: Ich habe überhaupt nichts gegen Cyberspace als eine Art elektronischer Avantgarde, als eine vielleicht sogar notwendige Zwischenstufe zur nächsten besseren, die uns zugleich Horizonte auch humaner Anwendung öffnet, für Dinge also, die noch gar nicht gedacht wurden. Auch natürlich deshalb nichts dagegen, weil wir auf dem internationalen Markt den elektronischen Entwicklungen etwa aus den USA oder aus Japan nicht ständig hinterherhecheln dürfen. Wofür wir Cyberspace allerdings nicht brauchen - als Ersatz für die Welt der Bücher, für das gedruckte Wort, für das, was Neil Postman gestern metaphorisch mit Erzählungen umschrieben hat.

Mit der CD-ROM-Software zum Beispiel haben wir eine glückliche Kombination multimedialer Synergien zur Hand, Bilder, Ton, Text und Wort in einem diese Medien gleichzeitig rezipierbaren und ihre Essenz steigernden Multi-Medium - hier stimmt der Begriff. In dem zum internationalen Markenzeichen avancierten Kürzel CD-ROM wurde schließlich das Wort Lesen - und zwar als integrale Substanz - ausdrücklich gerettet: "Compact Disc Read Only Memory."

Gewiß: Die Kulturalisierung von Wirklichkeit durch die Simulation neuer Komponenten von Wirklichkeit verändert die Vorstellung von Realität. Ich frage aber: Wenn die virtuellen Welten der Simulationstechniken Teil unserer Wirklichkeit werden und Rückwirkungen auf deren Materialität haben, wird dann eine partielle Neudefinition von Wirklichkeit fällig? Oder sind das nur modernistische, informationstheoretische Aufgeregtheiten?

Ich glaube nicht, daß traditionelle humanistische Bildung obsolet wird angesichts überintelligenter, aber inhaltsloser Technik, um nicht gleich von "informationsloser Hochinformatik" zu sprechen. Wer weiß - vielleicht wertet die Hypertrophie der Mittel im Vergleich zu ihren Zwecken sogar die traditionellen Inhalte auf.

Verlassen wir also die Sphäre der neuen Ideologien, und erlauben Sie mir stattdessen, das Thema auf dem Boden meiner Erfahrungen zu behandeln. Es sind dies diejenigen des Kulturellen, die mir aus meinem Engagement als Kulturpolitiker und für die "Stiftung Lesen" naheliegen, und ferner diejenige des Präsidenten einer im internationalen Kulturaustausch engagierten Institution "zur Pflege der deutschen Sprache im Ausland und zur Förderung der internationalen kulturellen Zusammenarbeit".Ich erlaube mir schließlich, das Thema mit einer gewissen Gelassenheit anzugehen, die mir in meinem Alter ansteht.

Ist die sogenannte "Medienrevolution" so neu?

Wir feiern in diesem Jahr hundert Jahre Film und Kino. Vor knappen fünf Jahrzehnten hat das Fernsehen begonnen, allmählich unsere Welt mit seinen Bildern zu überziehen. In der Bundesrepublik Deutschland gab es 1954 61.500 Fernsehgeräte, und schon 25 Jahre später (1981) beflimmerten 21,5 Millionen Monitore 98 % aller Haushalte, so daß in unseren vier Wänden die Welt zum globalen Dorf zusammenschrumpfte (Eurich/Würzberg 52).

Die jüngeren elektronischen Medien haben in immer kürzeren Zeiträumen weltweite Verbreitungsprünge erlebt. Kein Science-Fiction-Autor der 60er Jahre hätte sich träumen lassen, daß der Personalcomputer so rasch so einflußreich und ubiquitär werden würde. Und so mögen uns noch manch andere Innovationen überraschen, aber auch manche Hoffnungen enttäuschen.

Für Innovationen wurden laut Dr. Hagen Hultzsch (von Telekom) weltweit 1994 nicht weniger als vier Billionen investiert. Kaum jemand hat den Flop von BTX vorausgesehen; und daß umgekehrt Internet so rasch so erfolgreich werden würde, das hätten wir vor wenigen Jahren auch nicht geahnt: Die Quantensprünge der Innovationen verlaufen oft anders als erwartet, aber sie ereignen sich immer wieder. Natürlich hat das alles die Welt und das Denken der Menschen verändert.

Aber diese Veränderungen sind doch auch nur Teil eines ohnehin historisch einmaligen Prozesses exponentiellen Wachstums, das ohne historisches Vorbild ist: Nicht nur die Bevölkerung, auch Produktion, Ressourcenverbrauch, Immissionen oder Abfall haben in den wenigen Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Wachstumsraten erreicht, die in der Weltgeschichte einmalig sind. Daß die an einem solchen Wachstumsprozess beteiligten Faktoren sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit entwickeln, das gilt auch für Information und Kommunikation. Gegenwärtig leben und arbeiten gleichzeitig mehr Wissenschaftler als in der gesamten Menschheitsgeschichte, das Wissen verdoppelt sich in immer kürzeren Zeiträumen usf.;

Da Wachstumskurven in vielen Bereichen exponentiell verlaufen, können die Prozesse, auf die sie sich beziehen, nicht unendlich fortgesetzt werden. Gleichzeitig sehen wir heute deutlicher als noch vor 1989: Die Geschichte ist keineswegs zu Ende; sie verläuft vielmehr wie eh und je konflikthaft und diskontinuierlich - mit Menschen, die weder in marktwirtschaftlichen Prozessen, noch in anderen Richtungen zu "neuen Menschen" erziehbar sind oder in einem therapeutischen Medienprozeß umgeprägt werden wollen. So ist auch die neue anthropologische Qualität der Kommunikation zu relativieren.

Die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns verläuft wesentlich langsamer als die der seit dem Neolithikum sich herausbildenden Kulturtechniken. Genetisch sind jene Hirnregionen, die beim Lesen beansprucht werden, viel älter als Schrift und Buch, wie wir von den Neurobiologen erfahren. Die Wissenschaftler fragen daher zu Recht, was denn früher in diesen Hirnregionen wohl geschah.

"Um herauszufinden, welche Aufgaben während der 'voralphabetischen' Phase jenen Hirnregionen zukamen, die im Gehirn des heutigen Menschen für Lesen und Schreiben verantwortlich sind", ist nach Otto-Joachim Grüsser "eine nähere neurobiologische Analyse des Lesens und Schreibens erforderlich." (Grüsser, Otto-Joachim: Neurobiologie und Kulturgeschichte des Lesens. In Hoffmann S. 167 ff):

"Für die frühen Wildbeuter (Jäger und Sammler hat man sie einmal genannt) waren diese Hirnregionen vermutlich zum Spurenlesen wichtig." Grüsser weiter: "Die Hypothese der gemeinsamen neurobiologischen Wurzeln von Lesen und Spurenlesen wird auch durch ähnliche Lehrmethoden bekräftigt. Die Ureinwohner Australiens ('Aborigines') beginnen ihre Kinder genau in jenem Alter, in dem in unserer Kultur Lesen und Schreiben in der Schule gelehrt wird, im differenzierten Spurenlesen zu unterrichten - und zwar mittels einer systematischen visuell-taktilen Methode. Wer nicht bis zum 14.-16. Lebensjahr die Kunst des Spurenlesens erlernt hat, der hat große Schwierigkeiten, sie je zu erwerben .."

Das archaische Spurenlesen entspricht menschheitsgeschichtlich also dem heutigen Lesen; und beim Umgang mit modernen elektronischen Informationsmedien und Kommunikationstechniken sind kreative und intelligente Wahrnehmungs- und Selektionsprozessse ebenso nötig wie beim Spurenlesen. Wie der Saarbrücker Medienpsychologe Peter Winterhoff-Spurk betont, wußten Menschen schon immer aus einer "Reizüberflutung" auszuwählen, und diese Fähigkeit ist auch für die Orientierung im modernen Datendschungel zentral.

Zwar ist das traditionelle Spurenlesen für den modernen Asphaltcowboy und Internet-Surfer entbehrlich geworden, nicht aber das Lesen und die komplexeren Orientierungsleistungen. Selbst Print-Medien werden für diese Species keineswegs überflüssig - schauen Sie sich einmal das Angebot an Computer-Zeitschriften in jedem Bahnhofsbookshop an. Und wer spricht etwa noch vom papierlosen Büro? Auch die Computersprache setzt Lesefähigkeit voraus.

So neu ist das alles also nicht. Die elektronischen Innovationen verlangen ähnliche Gestaltungsimpulse und Auswahlleistungen wie früher. Neu hingegen und bis jetzt völlig unbewältigt sind die zur gleichen Zeit sichtbar werdenden Dimensionen des Wachstums in ökonomischen, demographischen und materiellen Prozessen; diese sind aber nicht allein und nicht direkt von den neuen Technologien abhängig. Mit diesen gigantischen Dimensionen fertig zu werden, dürfte wesentlich schwieriger sein als die kulturelle Bewältigung der neuen Technologien.

Vollzieht sich diese Entwicklung global?

Anderes gehört nicht weniger relativiert. Natürlich leben wir virtuell im global village, weil es theoretisch möglich ist, alle Nachrichten zu jeder beliebigen Stunde von jedem Ort an jeden anderen Punkt der Welt zu transportieren. Dabei handelt es sich allerdings in der Praxis doch nur um eine inselhafte Vernetzung. Zwar sind die Empfangsgeräte für die moderne Massenkommunikation ubiquitär verfügbar und werden auch entsprechend genutzt; Rezeption und individuelle Verarbeitung aber sind in den verschiedenen Kulturen höchst unterschiedlich.

Nicht alles, was in modernen Soap-Operas und Serienkrimis gezeigt wird, ist allen gleiches Vorbild für das Alltagsleben - nicht einmal bei uns. Der Siegeszug der hierzulande und anderswo so erfolgreichen Fernsehserien "Dallas" und "Denver" endete in Japan. Dort waren die Serien ein totaler Flop. Offenbar fehlte dieser fernöstlichen Kultur das nötige Verständnis für das Spiel um Intrigen, Macht und Geld, an dem wir uns jahrelang delektieren konnten. Vielleicht war Japan gegen diese Art Lebensphilosophie populistischer Prägung aber auch deshalb immun, weil es im Lande Nippons so gut wie keinen Analphabetismus gibt.

Generell gilt: Wenn die sozialen Rahmenbedingungen nicht stimmen und mentale Bezugspunkte fehlen, an denen sich soziales Leben und Moral unbewußt orientieren, dann wirkt das oktroyierte Rollenverständnis aus den Hollywoodfactories der Industrieländer wie Erzählungen von einem anderen Stern. "TV is bigger than life" - aber möglicherweise in der Regel nur für unverschuldete Analphabeten, und vielleicht auch nur für solche Zeitgenossen, deren Kultur schon von der Erlebnisgesellschaft destruiert würde.

Auch meine jüngsten Erfahrungen aus Westafrika, einer Region ohne Schulpflicht, widerlegen entsprechende Theorien der ästhetischen Wahrnehmung und der medientheoretischen Rezeption als übertragbar. Wie können Kunst oder laufende Bilder Erkenntnisse wecken, wie Thomas Mann dies erhoffte, wenn der Betrachter deren direkten oder verborgenen Code nicht entziffern kann. Man könnte vermuten, daß eine Vereinheitlichung in Richtung auf eine von den modernen Massenmedien geprägte internationale Kultur ein längerfristiger Prozeß ist, in den im Laufe der Zeit viele Modifikationen einfließen. Aber was dabei herauskäme, das wäre längst keine lineare Fortsetzung unserer eigenen Entwicklung mehr, und auch deswegen ist Skepsis gegenüber linearen Vereinfachungen angesagt.

Ein solcher permanenter Prozeß hat eine gesellschaftliche, eine soziale und eine humane Dimension: Einer partiellen und selektiven Universalisierung von Information und ökonomischer Globalisierung steht nach dem Ende der Ost-West-Bipolarität eine partielle Regionalisierung gegenüber. Das hat zur Folge, daß angesichts der manifesten Nichtübertragbarkeit der Lebensweise moderner Industriegesellschaften auf die ganze Welt Werte wie Differenz, Region und "Provinz" aufgewertet werden.

Im Materiellen entspricht dem die neue Bedeutung des informellen Sektors neben dem global vernetzten Weltmarkt. In den modernen Megastädten des Südens haben sich dank eines Mix von Transfer-Mitteln und Subsistenz-Produktion, von Lohnarbeit, Deregulation und vorstaatlichen sozialen Netzen weite und effiziente Netzwerke sozioökonomischen Handelns herausgebildet; deren Kennzeichen sind ein unterkapitalisiertes, arbeitsintensives und unreguliertes Wirtschaftssegment.

Ohne sie hätten jene Teile der Bevölkerung längst die Geduld verloren, denen die Weltbankberichte ein Leben unterhalb des Existenzminimums bescheinigen. Aber in den Weltmarkt sind sie nur teilintegriert, und eben dieses Beharren auf den eigenen regionalen, lokalen Ressourcen ist ihre Überlebensvoraussetzung.

Sind die neuen Medienentwicklungen wirklich so bedrohlich?

Wie schnell die Situation sich ändert: 1994 waren die Mediendiskussionen noch beherrscht von jener populistischen Rolle, die Silvio Berlusconis "in Europa einzigartiges Medienimperium" (Clement) und dessen Wahlkampf auf dem Bildschirm spielte. Aber Populismus kannte auch Shakespeares Antonius schon, als er von Brutus als dem ehrenwerten Manne sprach. Und Hugenbergs massenwirksames Presse-Imperium nobilitierte Hitlers Rassenwahn und verhalf ihm auch ohne Fernsehen zur Regierungsgewalt, während Berlusconis Staats-Macht von den Italienern rasch wieder ausgehebelt wurde.

Meine Damen und Herren, seit es Bücher gibt, kennen wir auch die Warnungen vor der angeblich verderblichen Lese-Sucht. Und so streiten sich im breiten Medienfeld schon lange Apokalyptiker und integrierte Optimisten. Wenn immer es um fatale Folgen des Fernsehens und des Computers geht, dann ist die Kulturkritik in ihrem Element. Das gilt etwa auch für die Diskussion um negative Auswirkungen auf jugendliche Genießer und User.

Glücklicherweise besitzen wir inzwischen genügend empirisches Material, um realistischer einschätzen zu können, was uns an generativen Potenzen der elektronischen Medien noch zu schaffen machen wird. So schreiben zum Beispiel Waldemar Vogelgesang und Thomas A. Wetzstein über die Vervielfältigung der Kommunikation in Computerkulturen. (In: Widersprüche,Heft 49/1993, 35-43): "Die Vielfalt der Nutzungs- und Codierungsmöglichkeiten, die der Computer eröffnet, führt zur Herausbildung von neuen Spezialkulturen" - einhergehend mit einer Individualisierung personaler und medialer Kommunikation, "Szene"-Treffs und Reproduktions-variablen bzw. Sozialisationsmöglichkeiten" - in begrenzter Weise führt dies sicher auch zur Endogamie, also zur Einsiegelung je spezifischer Lebensweisen. Einem relativ souveränen Umgang der Jugendlichen und "Technik-Freaks" mit den neuen Möglichkeiten der Informationsgesellschaft stehen kulturkritische Ängste vor der Technik gegenüber, die viele schon ab 30/40 plagen, wie wir gestern hörten.

Euphorie und Ängste mischen sich auch in der Einschätzung der Mediennutzung. "Digitale Brandsätze" findet Michael Charlier im Angebot der Medien: "Zum Beispiel 'The Terrorist's Handbook', verfaßt von einem 'Unknown Author'. Nach kaum einer Minute Ladezeit liegt der Text ... auf der Platte: Er enthält in peinlich politisch korrekter Sprache kochbuchartige Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur Anfertigung von Sprengstoffen, Bombengehäusen sowie Einbrecherwerkzeugen ..." (Charlier, Michael: Digitale Brandsätze. Frankfurter Rundschau v. 27.5.1995)

Und das auf dem Server eines gemäßigt alternativen, aus öffentlichen Mitteln mitfinanzierten niederländischen Kommunikationsprojekts mit gutem Ruf. Wer sich freilich über dergleichen Handlungsanleitungen aufregt, der sei daran erinnert, daß in jeder Universitätsbibliothek militärtechnische Fachliteratur en masse verfügbar ist, die jedermann alle notwendigen Informationen zum Do-it-yourself anbietet.

Wir erinnern uns: Vor etwa 15 Jahren machten nordamerikanische Studierende von sich reden, als sie aus allgemein zugänglicher Literatur die Konstruktionspläne für Atombomben zusammengestellt hatten. Sie hatten natürlich kein waffenfähiges Material und wollten auch keine Bombe bauen. Aber das Wissen verschwindet nicht und solange es Kernkraftwerke gibt, bleibt auch das potentielle Material verfügbar.

Im Ambivalenzkonflikt zwischen Wohl und Wehe der neuen Medien ist aber auch auf reale Chancen für bestimmte Gruppeninteressen hinzuweisen. Was wir mit Hilfe von Internet, Datenautobahn und was sonst noch alles auf uns zukommen mag, zur Verfügung haben, eröffnet Chancen zu informationellen Subkulturen für beliebige Zwecke.

Das spielt sich technisch auf einer neuen Stufe ab, sorgt aber auf gleiche Weise wie andere privilegierte (oder einfach nur aufwandsabhängige) Zugänge zu genaueren Kenntnissen für eine Ausdifferenzierung der Wissensebenen und der Informationskulturen. Darin sind eine Menge neuer Chancen enthalten; denken wir nur daran, daß diese Zugänge sich jeder totalitären Kontrolle entziehen und über Grenzen hinweg funktionieren.

Neue Denkwege können auch zu alternativen Denkweisen führen. Diese Potenz steigert die Souveränität der Individuen bezüglich der Nutzung von Informationen und der Teilhabe an Programmen: Jeder macht sein eigenes Programm - so der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze letzten September auf einem wissenschaftlichen Symposium für Dieter Stolte - "lector in fabula" ist jeder potentielle Nutzer in den interaktiven Medien, d.h. der Leser der Geschichte fühlt sich als Teil der Story.

Wer Internet nicht kennt, macht sich kaum eine Vorstellung von der neuen Vielfalt der verschiedensten Kommuikationsformen, in denen sich gut tummeln läßt, sofern die jeweiligen Rahmenbedingungen stimmen. Neil Postman hat Recht mit seiner Warnung vor einer "gefährlich naive(n) Begeisterung für neue, faszinierende Technologien" [Neil Postman: Selbstverteidigung gegen die Lockungen der technologischen Beredsamkeit. In: Hoffmann, Hilmar (Hg.): Gestern begann die Zukunft. Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung der Medienvielfalt. Darmstadt 1994, 17-26, 17].

Wie so oft in der jüngeren Geschichte kam zuerst die neue Technik, und dann erst begann die Suche nach Inhalten, möglichen Zwecken und Nutzungen dafür. In diesem Wechselspiel zwischen technologischer Forschung und Entwicklung auf der einen Seite, an den Verwertungsinteressen und den Marktchancen relevanter Industrien auf der anderen hat sich, wie so oft, die Politik in der Position des armen Hasen im Rennen zwischen Hase und Igel befunden: Sie sollte im wesentlichen legitimieren, was andere ausgebrütet hatten.

Von Freiräumen, wie er sie im Selbstverständnis liberaler Demokratien für die gemeinschaftliche Gestaltung von Lebensverhältnissen eingeschrieben sind, war da kaum mehr die Rede. Darauf käme es aber gerade an. Interessanter, diskutierenswerter als die von den Kulturkritikern unterstellten gleichsam automatischen Folgen der neuen Medien ist das, was an politischem Rahmen vorgegeben wird oder was voluntaristischer Orientierung unterliegen kann - zumal der Gestaltungsspielraum doch nicht völlig von Sachzwängen aufgezehrt wird.

Interessant scheint mir dabei, was die Experten bezüglich der Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem mitteleuropäischen System herausgefunden haben: In den deutschen Strategien, so Hans J. Kleinsteuber, geht es "im Kern um eine Kanalvervielfachung mit einem rudimentären Rückkanal, vor allem für Abrechnungszwecke". Mehr sei wegen der Einseitigkeit der Satellitenkommunikation nicht realisierbar.

In den USA wird dagegen vor allem in die zentralen Computer investiert, in die sogenannte Medien-Server. Das weist in Richtung Internet - weil "in den USA eine Industriekoalition die digitale Technik nutzen will, um den kommerziellen Networks Zuschauer und Märkte zu entziehen", während genau diese bei uns die digitale Technik einführen.

Im Ergebnis scheint das US-Bild schillernd und widersprüchlich, voll von nicht eingelösten Versprechungen und kommerziellen Hoffnungen. Dabei ist allerdings festzustellen, daß Technologies of Freedom zumindest dosiert eine Chance haben werden - nicht weil die Kommunikationsindustrie die Bürger beglücken möchte, sondern weil es trefflich ins unternehmerische Kalkül paßt.

Auch in Deutschland gibt es Kräfte, die sich einerseits zwar dessen bewußt sind, daß sich in der Leonardo-Welt die Modernisierung nicht aufhalten läßt, wir diese andererseits aber wenigstens zivilisieren sollten. In der Einschätzung von Peter Glotz sind es die Europäer, die eine Moderatorenrolle für die vielfältige Entwicklung der Individual-, Geschäfts- und Massenkommunikation übernehmen müssen - also für die Entwicklung elektronischer Lernsysteme. Dazu sei eine technologiepolitische Vision notwendig, und zwar eine, die soziale und moralische Ideen formulierte; als Beispiel nennt er die Offenheit und Zugänglichkeit "der wichtigen Medien und Netze, den Schutz vor einseitiger Medienmachtpolitik, die Gewährleistung informationeller Selbstbestimmung" und - möchte ich hinzufügen - auch die Ermöglichung von solchen Kommunikationsprozessen, die sich materiell nicht rechnen (Glotz, Peter: Die Telekratie bändigen! In: Die Woche v. 15.9.1994).

Es käme darauf an, eine "Media- und Computer-Literacy" zu entwickeln als gesellschaftliche Fähigkeit des Umganges mit den Medien. Die Stiftung Lesen in Mainz versucht dies, bezogen auf die Lesefähigkeit, seit Ihrer Gründung und in vielem sogar erfolgreich. Schon in der Schule müßte entschieden mehr für diese Art der Vermittlung auch für die geistige Übereignung der Medieninhalte getan werden.

Dem mit Abstand wichtigsten Faktoren für die Einübung von Regeln der Mediennutzung "sind solche des Sozialmilieus, in welchem einer aufwächst ... Die Ungleichheit unserer individuellen Kultur- und Kompetenzniveaus nimmt in einem sich selbst verstärkenden Prozeß zu. Die Probleme, die sich daraus ergeben, sind von einer Größenordnung, die wenig zuversichtlich macht, daß unsere verdienstvolle Medienerziehung hier als Remedium ausreicht", wie wir bei Hermann Lübbe lesen. [Lübbe, Hermann: Mediennutzungsethik. In: Hoffmann, Hilmar (Hg.): Gestern begann die Zukunft. Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung der Medienvielfalt. Darmstadt 1994, 313-318, 317}

Ich denke, wir sollten die Politik nicht so leicht aus der Verantwortung entlassen. In der hochbrisanten aktuellen Situation sind diverse kulturpolitische Aufgaben formuliert und generell auch solche der kulturellen Öffentlichkeiten. Packen wir's an!

Wie wichtig ist Multimedia?

Bezugspunkt aller Wirtschaft ist die menschliche Existenz. Heute wird es uns nicht um den materiellen Naturstoffwechsel allein gehen, sondern um die Sicherung einer menschenwürdigen und zukunftsfähigen Existenz in allen Bereichen. Diese Sicherung ist angesichts der "globalen Probleme" in der Perspektive nur im Weltmaßstab denkbar, sollen nicht in Zukunft Konflikte und Verantwortungslosigkeiten die Lebenssphäre zerstören.

Die Skepsis bezüglich der lebensweltlichen Wichtigkeit der Medien ist alt, wir können sie schon von Francesco Petrarca in der Frühphase des Humanismus genährt finden: In seinem Dialog "Von der Bücherfülle" sinniert er: "Bücher haben manche ins Wissen, manche in den Wahnsinn geführt ... Daher will der Weise die Dinge nicht reicher, sondern in ausreichender Fülle."

Ein Leben in Würde und Freiheit zu sichern, das muß der letzte Zweck des Wirtschaftens ebenso wie der Nutzung der Kommunikationstechnik sein. Deren wichtigste materielle Bestimmungen werden in allen Gesellschaften kulturell definiert, nicht materiell. Mir scheint, daran läßt sich auch in der Mediendiskussion gut anknüpfen.

Ihr humaner Sinn hätte sich darin zu beweisen, daß die neuen Medien zur Souveränität der Menschen beitragen, und die wird im Kulturellen definiert. Als Schuhlöffel für neue Medien-Märkte ist mir die kulturelle Sphäre allerdings zu schade. Ich wehre mich auch gegen eine Definition von gutem und richtigem Leben, die allein von den Verwertungsbedürfnissen eines permanenten Wachstums diktiert wird.

Nicht die Technik, nicht die Wirtschaft, sondern die Kultur im weitesten Sinne ist es, die eine Gesellschaft und ihre Ökonomie ebenso wie ihre Produkte und ihre Menschen interessant und attraktiv macht. Was aber sind starke, überzeugungsfähige und attraktive Kulturen?

Nicht, weil seine Wirtschaft besonders leistungsfähig war, sondern weil seine Kultur mit ihren Werten, Ideen und Praktiken den Rahmen lieferte für ein Verständnis von Leben und Geschichte, bei dem die bewußte und zielgerichtete Gestaltung von Natur, Lebenswelt und Gesellschaft einen zentralen Platz hatte, konnte einst Frankreichs Aufklärung eine zeitlang Vorbild für die Welt werden. Weil sie eine Allianz eingegangen war mit einer fortschrittsfreundlichen, wachstums- und expansionsfreudigen Kultur, die noch nichts von den Grenzen des Wachstums wußte.

Nur deswegen konnten dann später Deutschlands Technik und die Ergebnisse seiner leistungsfähigen und innovativen Forschung und Entwicklung weltweit anerkannt werden - nicht unbedingt mit den positivsten Folgen, wenn wir allein an die Kriege denken, die vornehmlich von expansionsfreudigen Kulturen dieser Art ausgingen.

Heute stehen andere Überlebensaufgaben an, und derjenigen Kultur und Gesellschaft, die sich in ihrem humanen Kapital am überzeugendsten darstellt, wird es an Attraktivität und Erfolg nicht mangeln. Zukunft kann nicht mehr allein durch Technik und Elektronik, schon gar nicht durch Machtkampf im "Krieg der Zivilisationen" (Huntington) gesichert werden.

Wenn wir denn, wie eingangs zitiert, in einer welthistorisch so besonderen Situation leben, jedenfalls was die materiellen Indizes betrifft, dann muß auch Zukunft anders gedacht werden als in der Fortsetzung linearer Trends. Zukunftsinteressant sind Lebensformen und kulturelle Leitbilder, für die kompatible sozialkulturelle Strukturen entwickelt werden. Wer dieses Feld fantasievoll besetzt, der kann darauf auch erfolgreich wirtschaften - so wie einst im Feld des euphorischen Fortschrittsdenkens.

Die Probleme liegen auf der Hand: Von den derzeit auf der Erde lebenden Menschen sind in der Dritten Welt etwa 2,5 Milliarden auf dem Sprung, mit Wachstumsraten von um die 10 % jährlich alles das nachzuholen, was wir in den letzten hundert und mehr Jahren entwickelt haben.

Da ihnen nur "die unökologisch gestaltete Dinosauriertechnik zur Verfügung steht und die Industrienationen sich gegenseitig mit Angeboten überbieten, wird es wohl zwangsweise zum größten Verbrauch von Natur kommen, den die Menschheit je verursacht." So jedenfalls die pessimistische Prognose von Friedrich Schmidt-Bleek vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie (Werkbund-Katalog), bei dem wir weiter lesen: "Da signifikante soziale Veränderungen normalerweise ein bis zwei Generationen in Anspruch nehmen, muß wohl auch für den ökologischen Strukturwandel in ähnlichen Zeiträumen gedacht werden."

Nach offiziellen Schätzungen benötigen wirklich neue technische Lösungen 5 bis 20 Jahre zur Reife. Es könnte sein, daß sich in der nichtmateriellen, in der virtuellen Welt der Informationsgesellschaft entsprechende Chancen auftun, um Konsum und Lebensqualität auf virtueller Ebene, mit einem Minimum an Ressourcenverbrauch in Einklang zu bringen. Dieser freilich ist wegen des Geräte- und Infrastrukturbedarfs größer ist als wir denken, aber dafür schaftt er eben auch zusätzliche Arbeitsplätze.

In dieser Richtung erkennt Rolf Eckmiller euphorisch einen expansionistischen Weg der Menschheit mit neuronalen Netzen, wie er das feinnervige Technogespenst nennt. "Gerade in der Phase, in der es auf der Erde gefährlich eng, gefährlich schmutzig und lebensgefährlich wird, schafft die Menschheit leistungsfähige Technologien, um komplexe Systeme in den Griff zu bekommen ..." (Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, 101)

Phantasien dieser Art ließen sich in verschiedenster Weise ausgestalten, aber wohl nur insofern, als deren Produktion vermarktbar wäre. Hier sind nicht nur von Künstlern und Kulturpolitikern Ideen gefordert, sondern von der Politik generell. Withschaft und Banken mit moralischem Selbstverständnis fänden viel Beifall mit der offensiven Förderung entsprechender Impulse. Ein Leben mit Künsten und Kultur für alle, mit Kommunikationswegen, die nach Herders Worten zur Humanität führen und die Lebensqualität steigern - und dies alles bei niedrigstem Ressourcenverbrauch - das könnte eine Perspektive sein.

Damit uns nicht hören und sehen vergeht

Die Gesellschaft der kommenden Jahrzehnte wird auf nichts weniger verzichten können als auf das Lesen, wenn sie sich weiterhin als kulturell definiert.

Allzu leicht wird angesichts verbreiteter Medieneuphorie übersehen, daß Lesen, Lesefertigkeit und Leselust erst die Grundlagen schaffen, elektronische und audiovisuelle Medien optimal zu nutzen, nicht als passiver Konsument, sondern als reflektierender Rezipient. Schon Goethe sah einen "groben Unterschied" darin, "ob ich lese zu Genuß und Belebung oder zur Erkenntnis und Belehrung" (Maximen).

Mit Ausbreitung der Medien und zunehmender Nutzung hatte sich ja einmal die Hoffnung einer "Demokratisierung des Wissens" verbunden, die schon Walter Benjamin über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks zu erreichen hoffte. Mehr Informationen als bisher und ihre bessere Zugänglichkeit sollten dazu beitragen, die aufgrund unterschiedlicher Bildung bestehenden Wissensdefizite zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen "auszugleichen".

Wie empirische Untersuchungen nachweisen, hat diese Hoffnung leider getrogen. Es zeigt sich nämlich, daß nur wer liest, auch die Informationen der audiovisuellen Medien besser verarbeitet, also Fernsehen ebenso wie Computer, Bildschirmtext oder Cyber-Space gewinnbringender rezipieren kann. Audio-Visuelle Massenmedien können also bildungsbedingte Wissensunterschiede und Sozialisationsschäden nicht kompensieren. Der Begriff Bildung korrespondiert auch heute noch unmittelbar mit dem Begriff Lesen bzw. mit Lesefertigkeit.

Das Beherrschen der Kulturtechnik Lesen bleibt demnach nicht ohne Einfluß auf schulische und akademische Leistungen und ist deshalb auch ein wesentliches Kriterium bildungsabhängiger Karrieren zu würdigen.

Halten wir also fest: Auch im Multimedia-Zeitalter bleibt die Lesefähigkeit die am wenigsten bestreitbare Kulurtechnik für die Partizipation auch an den Ressourcen aller übrigen Medien und Künste. Da wir uns nicht, wie die Computer mit binären Zeichen direkt verständigen können, bleibt der alphanumerische Code für uns auch in Zukunft unentbehrlich.

Das bei aller Faszination die elektronischen Perspektiven das bedruckte Papier und die Kulturtechnik nicht obsolet machen - darauf hat der Münchener Verleger Klaus G. Saur hingewiesen. In seinen Thesen zum elektronischen Publizieren hält er gegen den euphorisierenden Techno-Trend fest:

Spricht aus Saur's Prognosen mehr Skepsis als Euphorie, so erinnert Konkurrent Hubert Burda daran, daß erst morgen die Konturen dessen sichtbar werden, was der Schritt von der analogen zur digitalen Kommunikation für die Verlage letztendlich bedeutet. Seine Hoffnungen sind hoffentlich nicht als eine Verneinung der Tatsache zu werten, daß die Lesefähigkeit die Voraussetzung für seine Desiderate sind. Die heutigen Veränderungen in den eigendynamischen Gesetzen der Kommunikation seien revolutionär, und niemand könne die Dimensionen dieser Zeitenwende beziffern. In den Staaten etwa sei Multimedia heute schon ein Milliarden-Geschäft, in Europa stünden wir erst am Anfang.

Hubert Burda stützt sich auf nicht näher identifizierte "Seriöse Prognosen", wonach Europas Großfamilie 1998 bereits 50 Millionen Personalcomputer haben werden. Für uns sei entscheidend, daß wir die Veränderungen in der Kultur der Kommunikation hellwach und offen annähmen, weil Multimedia den klassischen Print-Verlagen die Zukunft öffnen würde.

Gruner & Jahr-Chef Gerd Schulte-Hillen hielt unlängst auf dem Deutschen Kommunikationstag dagegen, weil wer mitreden und mitentscheiden wolle auch in Zukunft aufs Lesen angewiesen bleibe. Fernsehen und Radio würden mehr und mehr zu "Hintergrundmedien", weil die Printmedien "Schneisen in das Dickicht der Überinformation schlagen". Wie wir sehen, stecken wir tief im Dilemma diverser Prognosen, deren kompetente Evaluierung der Computer bisher jedenfalls nicht zur neuen Gewißheiten hochrechnen konnte.

Meine Damen und Herren, von Isaac Newton stammt der Satz: "Wenn ich weiter gesehen habe als andere, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe". In Abwandlung dieser weisen Einsicht müßten alle Exponenten des neuen Medienzeitalters einräumen, daß sie auf Gutenbergs Schultern stehen - und zwar fest, sicher und noch auf mehr als absehbare Zeit. Lassen Sie mich schließen mit dem ebenso schönen wie nachdenklich machenden Satz der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman:

"Ohne Bücher bleibt die Geschichte stumm,
die Literatur sprachlos;
die Wissenschaft verkrüppelt,
das Denken kommt zum Stillstand.
Bücher sind Zeugen des Wandels,
sind Fenster zur Welt,
sie sind Banken des Geistes.
Bücher sind gedruckte Humanität."

Stand: Juni 1995


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