hide random home http://www.hrz.uni-oldenburg.de:81/~oliver/bg/preamble.html (Einblicke ins Internet, 10/1995)

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Präambel

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten zu den Wahlen zum 13. Deutschen Bundestag an und wollen Mitverantwortung für die Zukunft übernehmen. Unser wichtigstes Ziel ist es, die Regierung Kohl abzulösen, um eine soziale und ökologische Kurskorrektur in der Bundesrepublik einzuleiten.

Parteien und Politiker haben in den vergangenen Jahren viel Ansehen verloren. Wir möchten dazu beitragen, daß Bürgerinnen und Bürger sich durch die, die sie gewählt haben, wieder vertreten fühlen. Wir möchten aber auch ausländische Bürgerinnen und Bürger vertreten, die, obwohl sie seit vielen Jahren in Deutschland leben, noch immer nicht wählen dürfen.

Zu recht wird von Politikerinnen und Politikern erwartet, daß sie professionell und engagiert arbeiten und ihre Arbeit als einen Dienst an der Gesellschaft verstehen. Aber alle Anstrengungen in Parlamenten und Regierungen haben nur Sinn, wenn sehr viele Menschen in diesem Land bereit sind, ihre Verantwortung für die Gesellschaft wahrzunehmen und die Politiker nicht sich selbst und ihrem Geschäft überlassen. Über unsere Zukunft wird nicht nur an den Wahlurnen entschieden, sondern überall und an jedem Tag.

Viele Menschen schauen nicht zuversichtlich, sondern beunruhigt oder voller Angst in die Zukunft. Dafür gibt es gute Gründe. Aber diese Zukunftsangst lähmt, verführt zur Resignation oder macht aggressiv. Dadurch bleibt alles, wie es ist, oder wird noch schlimmer.

Wir möchten mit unserem Wahlprogramm Lust auf Politik machen. Das klingt ziemlich gewagt in einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen von der Politik abwenden. Aber wir reden aus Erfahrung: Es ist notwendig und sinnvoll, sich einzumischen. Viele von uns haben es ausprobiert und erfahren, daß sich gemeinsam, mit Geduld und Courage eine Menge erreichen läßt. Wir möchten Politik gemeinsam mit Wählerinnen und Wählern und nicht nur mit deren Stimmen machen. Dafür brauchen wir eine öffentliche Debatte zu den wichtigsten Fragen der Zeit. Dieser Meinungsaustausch und die Suche nach Problemlösungen müssen parteiübergreifend und unter Einbeziehung von Betroffenen, Interessenvertretungen und Fachleuten erfolgen.

Wir, die Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen, gehören den verschiedensten Berufsgruppen an, leben in Dörfern oder Städten, sind alt oder jung, haben Kinder oder auch nicht, interessieren uns für die verschiedensten Dinge und leben in sehr unterschiedlichen Verhältnissen. Auch unsere Geschichte ist verschieden. Wir haben in der DDR oder in der alten Bundesrepublik gelebt, sind seit Jahren politisch aktiv oder haben uns gerade erst aufgerafft, können auf Erfolge zurückblicken und haben manchmal versagt. Kurz und gut: so verschieden wir als Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen auch sind, verbindet uns doch eins: Wir tragen politische Verantwortung: im Alltag, in Bürgerinitiativen und Verbänden, als ehren- oder hauptamtliche Politiker und Politikerinnen, auf Oppositionsbänken und auf Regierungsstühlen.

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Politik stand selten vor so schwierigen Problemen wie heute. Wir versuchen mit unserem Programm, Wege aus der Krise unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Für viele der anstehenden Fragen gibt es keine Sofortlösungen. Zur Demokratie gehört auch, mit Konflikten und Problemen leben zu lernen. Wir meinen, daß gegenüber Politikern und Parteien, die die Menschen nicht ernst nehmen, sondern für alles Patentlösungen anbieten, Mißtrauen angebracht ist.

Der Prozeß der inneren Einheit Deutschlands, der den Wählerinnen und Wählern vor vier Jahren als schnell erreichbar und preiswert vorgegaukelt worden war, ist ins Stocken geraten. Längst ist im Osten klar, daß die "blühenden Landschaften" noch lange auf sich warten lassen werden, und im Westen, daß die Einheit erhebliche finanzielle Belastungen mit sich bringt.

Verzögert durch die verstärkte Nachfrage auf dem ostdeutschen Markt wird inzwischen die Wachstumskrise der Industrie sichtbar. Traditionelle Industriezweige schrumpfen, während die Entwicklung zukunftsfähiger neuer Produkte und Technologien versäumt wurde. Infolge von Massenerwerbslosigkeit und neuer Armut leben Millionen Menschen, in der Mehrheit Frauen, ohne Zukunftsperspektiven. Millionenfach liegen Leistungsbereitschaft und Erfahrung gut ausgebildeter Menschen brach. Die Angst vor Arbeitslosigkeit und dem sozialen Abstieg schürt Mißgunst und Ellenbogenmentalität und wird zu politischem Sprengstoff.

Vor wenigen Jahren waren es nur kleine Gruppen und die Grünen, die vor der zunehmenden Gefährdung unserer natürlichen Lebensgrundlagen warnten. Inzwischen ist das Bewußtsein dieser Gefährdung längst zum politischen Grundwissen geworden. An Tatsachen wie zunehmenden gesundheitlichen Belastungen, dem Verkehrsinfarkt, der sichtbaren Landschaftszerstörung und den Müllbergen kommt nicht mehr vorbei, wer Nase und Augen hat. Immer mehr Menschen dämmert es, daß an unserer Art zu leben und zu wirtschaften etwas nicht stimmt. Aber anstatt Landschaft, Klima, Tierwelt und Gewässer durch einen konsequenten ökologischen Umbau zu bewahren, betreiben die sogenannten Konservativen mit unvermindertem Tempo den ökologischen Abbau. Nach wie vor sind wir und unsere Nachkommen durch die Risiken und Gefahren der Atomenergie bedroht. Unter dem Druck der Wirtschaftskrise wächst die Kluft zwischen ökologischen Einsichten und der Tatenlosigkeit von Politik und Industrie. Aber nur die ökologische Erneuerung der Industrie, des Energie- und Verkehrssystems bietet die Chance für zahlreiche neue Arbeitsplätze. In der Verbindung von "Arbeit und Umwelt" liegt die Antwort auf die Strukturkrise der Industriegesellschaft.

Zur ökologischen und sozialen Krise kommt die demokratische Krise hinzu. Immer mehr Menschen, vor allem solche mit anderer Hautfarbe, anderer Kultur oder mit Behinderungen, müssen angesichts rechtsextremer Gewalttäter um ihre Sicherheit fürchten. Die Politik der Bundesregierung fördert Ausgrenzung und Diskriminierung. Die in der Bevölkerung vorhandenen sozialen Ängste werden geschürt und zum Vorwand genommen, demokratische Grundrechte abzuschaffen. So ist das Asylrecht faktisch außer Kraft gesetzt worden, und so ist durch den sogenannten Lauschangriff die Unverletzlichkeit der Wohnung bedroht.

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Die Chance, die deutsche Einheit für einen gesellschaftlichen Neubeginn zu nutzen und auf dem Wege einer Verfassungsreform demokratisch zu gestalten, ist vertan worden. Statt dessen haben sich die Menschen Ostdeutschlands, verlockt durch das Versprechen raschen Wohlstands, für eine Anschlußpolitik entschieden, durch deren Vollzug sie in ihrem Selbstbewußtsein und in ihrer Würde tief verletzt worden sind. Den in Westdeutschland lebenden Menschen wurde suggeriert, daß ihre Welt sich nicht verändern würde. Auch das war eine Lüge, die gern angenommen wurde und jetzt zu Enttäuschungen führt.

Die Bundesregierung hat die soziale, ökologische und demokratische Krise, in der sich dieses Land befindet, verschärft.

Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ändern sich in einem rasanten Tempo und erfordern eine neue Politik. Die noch amtierende Regierung hat darauf nur Antworten von gestern und vorgestern. Die Zeit ist reif für einen politischen und gesellschaftlichen Wandel. Die Bundesrepublik braucht einen Neuanfang.

Wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, werden uns nicht die Zukunft stehlen lassen. Wir wollen einen politischen Kurswechsel in diesem Land. Wir wollen eine Reform der Politik und eine Politik der Reformen.

Wir wollen eine solidarische Gesellschaft: den fairen Lastenausgleich zwischen Ost und West, die gerechte Verteilung von Arbeit und Einkommen, den Ausbau der sozialen Grundsicherung, eine Lebensperspektive für unsere Kinder, den Schutz Benachteiligter und Schwacher.

Wir wollen eine ökologische Gesellschaft: den ökologischen Umbau der Wirtschaft, eine Wende in der Energie- und Verkehrspolitik, einen Wertewandel zugunsten einer neuen Lebenskultur ohne Konsumwahn. Wir wollen eine demokratische Gesellschaft: Beteiligungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen, den Erhalt und die Erweiterung demokratischer Grundrechte, eine gut informierte und kritische Öffentlichkeit.

Wir wollen eine multikulturelle und tolerante Gesellschaft: die doppelte Staatsbürgerschaft, ein liberales Einwanderungsrecht, die Aufnahme von Flüchtlingen, einen lebendigen Austausch der Kulturen, die Gleichstellung und den Schutz von Minderheiten, die Vielfalt der Gesellschaft als Bereicherung begreifen.

Wir wollen eine emanzipierte Gesellschaft: gleiche Chancen für Frauen und Männer, selbstbestimmt zu leben und sich an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen, Förderprogramme für Frauen, eine kinderfreundliche Steuerpolitik, die Gleichstellung aller Lebensformen.

Wir wollen eine friedfertige Gesellschaft: die Einbindung Deutschlands in demokratische, internationale Zusammenhänge, ein Verbot von Waffenexporten, weitere Abrüstungsschritte, eine solidarische und zivile Außenpolitik.

Wir wollen einen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrag

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Immer mehr Menschen wissen, daß es nicht so weitergehen kann wie bisher. An die Stelle der Zweidrittelgesellschaft von oben muß ein Solidarzusammenhang von unten treten. Wir wollen an der Gestaltung eines neuen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages mitwirken, denn wir wissen: viele wohlhabendere Menschen wollen sich nicht auf ihrem Wohlstand ausruhen. Sie sind bereit, auf Mehrung materiellen Wohlstands zu verzichten, wenn sie gewiß sein können, daß die Mittel in soziale und ökologische Programme geleitet werden. Sie wissen, daß sich Lebensqualität nur durch die soziale und ökologische Umgestaltung der Gesellschaft verbessert und nur so die nachfolgenden Generationen eine Lebenschance haben. Die weniger Verdienenden wiederum, die in den Genuß der Umverteilung kommen, können sich umso mehr für eine ökologische Politik engagieren, als ihre eigenen materiellen Nöte gemindert werden. Dieses Bündnis kann den Druck auf die erhöhen, die der sozialen Verpflichtung, die aus dem Eigentum erwächst, nicht gerecht werden, sich mit einem wirklichen Solidarbeitrag an der Jahrhundertaufgabe der gesellschaftlichen Erneuerung zu beteiligen. Diese gesellschaftliche Koalition kann die Grundlage für eine neue und tragfähige Koalition im Bundestag bilden.

Wir wollen den politischen und gesellschaftlichen Wandel. Wir sind bereit, uns mit aller Kraft in ein Regierungsbündnis einzubringen, wenn damit eine seriöse Reformpolitik in Aussicht steht. Eine Möglichkeit sehen wir in einer Koalition mit der SPD. Deshalb gilt: Wer rot-grün will, muß grün wählen. Als bloße Mehrheitsbeschaffer allerdings stehen wir nicht zur Verfügung. Aber ob wir in der Regierung oder in der Opposition arbeiten: Wir werden die Vision einer sozialen und ökologischen, solidarischen und demokratischen Gesellschaft in unsere politische Arbeit einbringen. Doch wir haben Geduld und wissen, daß große Hoffnungen meist sehr kleine Schritte machen.