Ausschlaggebend war für mich und viele andere, daß mit der Verhüllung des Reichstags gerade nicht deutsche Geschichte eingepackt und versteckt wird, sondern im Gegenteil besonders gut sichtbar zu machen ist. Weltweit wird der Reichstag als Symbol für Glanz und Elend der deutschen Politik wahrgenommen und durch die Kunst von Christo in der Dimension dieser Auseinandersetzung gestärkt.
Weltweit wird die Verhüllung Anlaß sein, das Verhüllte und seine Geschichte anschaulicher zu machen. Weltweit kann die Verpackung des Reichstags außerdem ein Beispiel für souveräne Gelassenheit des modernen demokratischen Deutschland sein, welches in Kunst nicht Entweihung, sondern vor allem Chance zu Demonstration einer toleranten politischen Kultur sieht. Und fünfzig Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, an der Schwelle des Jahres 2000, kann die Verhüllung des alten Reichstags - des bald neuen Bundestages - auch eine optische Zäsur der Vergangenheit sein.
Mir persönlich ist die Abwägung bei dieser Entscheidung zunächst schwerer gefallen, als es nach diesen, mich überzeugenden Argumenten den Anschein hat. Auf der Waage der Überlegungen mußte natürlich berücksichtigt werden, welche Verletzungen entstehen könnten, Verletzungen geschichtlichen Andenkens oder Verletzungen menschlicher Empfindungen im Zusammenhang mit mangelnder Akzeptanz bei dieser Form von Kunst. Nachzudenken war auch über die unbeabsichtigte, aber mögliche Wirkung, daß wir Deutsche zu locker im Umgang mit dem Reichstag als Zeugnis deutscher Geschichte sind und uns eventuell leichtfertig in einen oberflächlichen PR-Gag verlieben.
Im Pro und Contra der Argumente wurde bei mir die Waagschale zugunsten der Aktion letztlich aber immer schwerer - und das nicht zuletzt auch durch die Art der öffentlichen und politischen Diskussion. Mich hatte an der Debatte zunehmend gestört, daß sie mit immer größeren Überhöhungen geführt wurde. Manche Gegner der Entscheidung haben in ungewöhnlich übertreibender Weise geradezu "Schändungsszenarien" ausgemalt, die sachlich nun wirklich nicht berechtigt sind. Die ehrliche Sorge, daß die Gefahr einer Beschädigng des Geschichtsbwußtseins angesichts des Umgang mit diesem wichtigen Symbol der Geschichte drohen könnte, akzeptiere ich. Mich selbst bewegte und bewegt aber noch weitaus stärker, daß unser zu Recht sehr sensibler Umgang mit der deutschen Geschichte und ihren Sym-bolen offensichtlich einen ganz entscheidenden Nachteil hat: Das Interesse und die Ebene des Bewußtseins vieler Menschen wird dadurch immer weniger erreicht. Wo wenig Bewußtsein ist, kann auch nur we-nig beschädigt werden. Untersuchungen, z.B. in deutschen Schulen, zeigen immer wieder eine erschreckend geringe Kenntnis über die Zeit des Nationalsozialismus. Die dauerhate Anstrengung, die daraus für uns Deutsche für unsere heutige Demokratie erwächst, fordert den verantwortlichen Beitrag eines jeden einzelnen, der für Freiheit, Menschenwürde und Toleranz in der Gesellschaft eintritt.
Aus der Geschichte lernen heißt, auch mit der Geschichte zu lernen. Dafür muß aber Geschichte im Wortsinn begreifbar bleiben. Wer dagegen Geschichte gleichsam nur in einer Vitrine seines politischen Bewußtseins aufbewahrt, der steht in der Gefahr, sie aus seinem Alltag zu verbannen. Gerade für unseren Alltag aber brauchen wir Befassung mit Geschichte. Die von uns allen gewünschte politische Bildung ist ohne Befassung und Begreifen viel schwerer zu erreichen. Der Beitrag, den Christo mit seiner Aktion genau dafür leistet, ist aus meiner Sicht unendlich viel größer als alle denkbaren Risiken.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist für mich schließlich auch das Verhältnis von Politik und Kultur in Deutschland. Unser politisches System leidet darunter, daß es um Austausch und Dialog mit anderen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen nicht zum Besten steht und für die letzten Jahre eher noch wachsende Distanz zu beklagen ist. Ein gutes Verhältnis zwischen Politik und Kultur ist aber immer auch ein Zeichen guter politischer Kultur. Hinzu kommt, daß Kunst von vielen nur als Zierleiste bei der Gestaltung der Gesellschaft betrachtet wird. Aus meiner Sicht wird künstlerische Entfaltung mit ihrer wichtigsten Tugend, der schöpferischen Kreativität, aber zunehmend wichtiger für den Gesamterfolg der Informationsgesellschaft, in der Ideenreichtum und individuelle Gestaltungskraft entscheidende persönliche und gesellschaftliche Erfolgsfaktoren sein werden. In vielerlei Beziehung ist es heute noch eine Kunst, in Deutschland Kunst zu machen.
Die Verhüllung des Reichtsags wird von Christo vollständig aus privaten Mitteln finanziert. Hier muß - ein seltener Fall im Zusammenhang mit Kunstförderung - nicht abgewogen werden, was es uns kostet, sondern nur, was es uns wert ist. Und wert ist es sehr viel für die Kunst selbst, für das Verhältnis von Politik und Kultur und für die Auseinandersetzung mit der Geschichte.