Diesem künstlerischen Akt liegt ein ästhetisches Konzept zugrunde, welches von Christo und Jeanne-Claude wie folgt umschrieben wird: "Die traditionelle Skulptur schafft ihren eigenen Raum. Wir nehmen einen Raum, der nicht zur Skulptur gehört, und machen daraus Skulptur. Dies ist vergleichbar mit dem, was Claude Monet mit der Kathedrale von Rouen gemacht hat. Claude Monet ging es nicht etwa darum zu sagen, die gotische Kathedrale sei gut oder schlecht, aber er konnte die Kathedrale in Blau, Gelb oder Lila sehen." (Baal-Teshva 1995: 26)
In der Darstellung der Kunst Christos und Jeanne-Claudes findet sich der Gesichtspunkt, daß es ihnen darum geht, "möglichst viele Menschen aus allen Schichten in ihre Projekte einzubeziehen und ihnen ein ästhetisches Erlebnis zu ermöglichen" (Baal-Teshva 1995: 26) Möglicherweise mag dies ein zentraler Gesichtspunkt sein, der Christo seit 1971 dazu motivierte, das Projekt Reichtstagsverhüllung zu betreiben. Zu Zeiten des Kalten Krieges lag der Reichstag abseits an der Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Durch die Aktion Christos sollte dieser randständige Bau aufgewertet werden - diese "allegorische Maßnahme"(Abs 1985)erhielt ihre Symbolkraft aber zugleich auch durch das interpretatorische Ansinnen, der westlichen Welt die behauptete Unfreiheit des kommunistischen Ostens vorzuführen. Vertreter des bundesdeutschen Kapitals nutzten frühzeitig diese Aktion als Multiplikationsforum ihrer Gesellschaftsvorstellungen, wie es Gerd Bucerius in der "Zeit" treffend ausdrückte: "Der schwierige Bau liegt am Rande des freien Berlin, kaum beachtet. Verpackt, würden Bilder zu Tausenden um die Welt gehen. Sie würden sich einprägen, bei uns und bei den befreundeten [sic!] Völkern. Christo weiß Gefühle zu wecken; dem Reichstag kämen sie zugute." (Bucerius 1985)
Ich bezweifle, daß bei einer Verhüllungsaktion zum damaligen Zeitpunkt in der bundesrepublikanischen Bevölkerung ein weitergehendes Verständnis für die Kunst Christos geweckt worden wäre. Ebenso gehe ich davon aus, daß der Anspruch Christos und Jeanne-Claudes, möglichst vielen Menschen ein ästhetisches Erlebnis zu vermitteln, nicht einlösbar war und ist. Hiergegen sprechen allein die überwiegend ablehnenden Kommentare und Meinungsumfragen. Unbestritten wären jedoch die persönlichen Ziele Christos verwirklicht worden, da für ihn das Reichstagsgebäude "eine politische und metaphysische Bedeutung" hatte, da es "als Schnittpunkt ideologischer Konfrontation zweier Welten" galt. (Cullen/Volz 1995: 14)
Diese Konfrontation existiert zum heutigen Zeitpunkt aber nun einmal nicht mehr. Entsprechend muß meiner Ansicht nach jetzt als zentraler Bewertungsmaßstab für die ästhetische und politische Bewertung des Projekts die mit dem Reichstagsgebäude verbundene Historie gelten.
Die zum großen Teil unaufgearbeitete nationalsozialistische Vergangenheit zählt jedoch in der Debatte um das Verhüllungsprojekt nicht. Das Reichstagsgebäude als Symbol des Hitlerschen Terrorregimes wird vielmehr - umgedeutet als Freiheitsfanal gegenüber dem "unfreien Osten" - in die Gegenwart hinüber gerettet. Gleichzeitig entzieht man sich so der Verantwortung gegenüber der Vergangenheit. Die politische und geschichtliche Aufarbeitung unterbleibt, da die Diskussion um das zu bewertende Kunstwerk auf einer ästhetisierenden Ebene geführt wird, die gerade den Rückblick konzeptionsgemäß nicht beinhalten darf. Walter Scheel benannte dies offen, als er zu Christos Kunst ausführte: "Sie hat Politisches zum Inhalt, ohne sich deshalb in den politischen Alltag einzumischen. Sie soll dokumentieren, daß die Bundesrepublik Deutschland souverän mit den Zeugnissen ihrer Geschichte umzugehen versteht, und daß sie Geschichte und Kunst für die Diskussion in der Gegenwart zu nutzen weiß." (Scheel 1981)
Einer Gesellschaft, die auch 50 Jahre nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Terrorregime ihre Schwierigkeiten mit dem Schuldeingeständnis gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus hat, steht es jedoch nicht an, das Kunstobjekt "Verhüllter Reichstag" als Freiheitssymbol zu verwenden, wie es in der Bundestagsdebatte zur Verhüllung anklang.
Die totgeschwiegene Geschichte darf nicht verhüllt werden, um sie derart zu vergessen. Die einer Verhüllung folgende Enthüllung darf nicht als Läuterungsprozeß für eine nicht aufgearbeitete Geschichte herangezogen werden. Das künstlerische Prinzip, welches vom Christo-Biographen David Bourdon als "Enthüllen durch Verbergen" (Baal-Teshva 1995: 18) bezeichnet wurde, kann und darf nicht auf den Berliner Reichstag angewendet werden.