Es war eben jene Symbolik, die eine Entscheidung über die Verhüllung von einem Verwaltungsakt zu einer Frage von einiger politischer Brisanz werden ließ. Christo sah mehr als einmal die Chancen für die Realisierung seiner Idee im Wechsel der Zeiten schwinden. Er hat jeden Bundestagspräsidenten aufs neue zu überzeugen versucht, seine Idee aber mit einer Beharrlichkeit verfochten, die selbst die Gegner einer Verhüllung mit Respekt erfüllte. Auch wenn ihm die Weltgeschichte eigentlich einen Strich durch die Rechnung machte und dem politischen Symbolgehalt einen etwas anderen Akzent versetzte, so spricht es für Christos Flexibilität, daß er seine Idee trotzdem verwirklicht hat.
Im Sommer 1995 steht das deutsche Parlamentsgebäude nun im Lichte der Weltöffentlichkeit, und viele Besucher aus aller Welt werden nach Berlin in die ";Werkstatt der Einheit"; kommen. Mancher Betrachter ertappt sich dabei, erstmals einen genaueren Blick auf das Parlamentsgebäude, seine Ästhetik und seine Geschichte zu werfen. Wenn das einer der Hintergedanken gewesen sein sollte - und Christos Theorie der Verhüllung beruht ja auf dem Gedanken, daß man auch durch das Verhüllen eines Gegenstandes seinen Chrakter offenbar werden lassen kann - dann wäre dies aus Sicht der deutschen Hauptstadt sehr zu begrüßen.
Das Projekt verkörpert Abschied und Anfang zugleich: den Abschied von der offenen Frage nach der Zukunft des geteilten Deutschland und gleichzeitig den Anfang von Berlins Aufgabe als Regierungs- und Parlamentssitz. Nur wenige Tage nach dem Ende des Projektes "Verhüllter Reichstag" werden die Umbauarbeiten beginnen, um den Reichstag als Parlamentssitz wieder erstrahlen zu lassen.
Insofern ist die Reichstagsverhüllung auch ein willkommenes Symbol für den Umzug von Bundestag und Bundesregierung in die deutsche Hauptstadt. Berlin war lange eine Hauptstadt im Wartestand. Wenn es jetzt einerseits zur Werkstatt der Einheit geworden ist, wo experimentiert und probiert werden kann, und andererseits zur Hauptstadt im Werden, dann findet auch das seinen sinnfälligen Ausdruck in Christos Aktion.
Ich freue mich über die intensive, kontrovers geführte Diskussion, welche die Realisierung des Projektes begleitet. Sie ist typisch für Berlin - die dynamische, brodelnde, europäische Metropole.
Schon früher hieß es, Berlins Schicksal sei es, immer zu werden und niemals zu sein. Auch heute verblüfft auswärtige Betrachter immer wieder das rasche Tempo, mit dem Berlin seine Aufgaben in Angriff nimmt. Insofern ist auch die kurze Zeit der Verhüllung, obwohl von Christo bei all seinen Aktionen so angelegt, eine hommage an Berlin als Stadt des Tempos. Es ist zum anderen eine Erinnerung daran, daß in Berlin kräftig gebaut wird, daß die Stadt voranschreitet.
Wenn Berlin nun mit vereinten Kräften an seiner Gestalt des 21. Jahrhunderts baut, dann wirbelt dies im wahrsten Sinne des Wortes eine Menge Staub auf. Vielen geht alles zu langsam - besonders denjenigen, die durch den Bau beeinträchtigt sind oder die von ihm profitieren werden. Aber ich fordere alle auf, einmal zurückzublicken - fünf Jahre reichen da schon: Damals stand Berlin kopf und feierte die glückliche Wiedervereinigung unserer Stadt und unseres Landes. Damals gab es eine Menge kühner Träume, die zu Plänen wurden. Heute, fünf Jahre danach, sind viele von ihnen bereits Wirklichkeit.
Die Silhouette der Stadt ist von Kränen geprägt, vor dem Berliner tun sich immer wieder unversehens Baugruben auf. Schaut man sich als "Baustellentourist" in Berlins Mitte um, so reibt man sich stets die Augen und fragt sich, ob es erst oder schon fünf Jahre her ist, seit Deutschland wiedervereinigt wurde.
Es ist erst fünf Jahre her, daß die deutsche Einheit und die Einheit unserer Stadt so viele Träume zu Tatsachen hat werden lassen. Bis es aber endgültig soweit ist, wird noch eine Menge Wasser die Spree
herunterfließen - und eine Menge märkischer Sand auf Berliner Baustellen bewegt werden.
Berlin befindet sich unübersehbar in einer Aufbruch- und Umbruchphase. Mit dem Wandel der politischen Situation hat sich das Gesicht der Stadt verändert. Die Architekturdebatte wird nirgends in Europa so kontrovers und so international geführt wie gegenwärtig in Berlin. Der Stadt geht es darum, ihre unverwechselbaren Wesenszüge nicht an eine anonyme Stadt der Wohn- und Büroblöcke zu verlieren.
Der Zweite Weltkrieg zerstörte die Hälfte der Innenstadt total, jedes dritte Gebäude ließ er als Ruine zurück. Dieser Substanzverlust ist enorm. Vieles wurde nach dem Krieg überstürzt abgerissen, neues wurde ohne Rücksicht auf Geschichte und Umgebung aufgebaut. Daher hat heute eine behutsame und kritische Rekonstruktion entsprechend den alten Grundrissen und Traufhöhen Priorität in der Stadtplanung.
Aber natürlich gibt es auch im zentralen Bereich, beispielsweise am Alexanderplatz, genug Flächen, wo die modernsten Architekten der Welt die Architektur von heute und morgen darstellen können. Eine Reihe von Wettbewerben haben die großen Namen der Weltarchitektur nach Berlin gebracht. Wir wollen neben dem bewahrenswerten Alten und der kritischen Rekonstruktion des Vergangenen auch Platz haben für zukunftsorientiertes Neues.
Berlin als deutsche Hauptstadt in einem zusammenwachsenden Europa hat viele Facetten. Nach dem Ende der Teilung wächst Berlin die Chance zu, eine Brückenfunktion zwischen Mittel- und Osteuropa zu übernehmen. Berlin kommt dabei eine Reihe von Standortvorteilen zugute, die bereits über 100 im Ost-West-Geschäft tätige Institutionen nutzen. Nicht zuletzt wegen der 40 Jahre lang getrennten Geschichte werden in unserer nun vereinigten Stadt die Sprachen Europas gesprochen, ihre Kulturen verstanden.
Auch liegt Berlin, eine Industrie- und Dienstleistungsstadt, eingebettet in die märkische Heide- und Seenlandschaft, auf den Schnittpunkten der europäischen Verkehrsachsen. Hier kreuzen sich die transeuropäischen Autobahn- und Eisenbahnverbindungen von Moskau nach Paris, von Stockholm nach Rom. Hier ermöglichen drei Universitäten und zahlreiche Fachhochschulen und Forschungsinstitute eine enge Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, hier schaffen drei Opernhäuser, zahlreiche Theater, Konzerthäuser, Museen und Bibliotheken höchst stimulierende Rahmenbedingungen. Hier bündeln sich die geistigen Entwicklungen der gesamten deutschen Nation.
Die Hauptstadt sollte ein Spiegelbild der Nation sein, die sie vertritt. Die deutsche Hauptstadt ist nicht allein Sache der Berliner, der Bundesregierung oder der Bonner, die langsam nach Berlin ziehen, sondern eine Angelegenheit aller Deutschen. So wie Berlin in unserer föderalen Republik eine Verantwortung gegenüber allen Bundesländern hat, hat auch die Republik eine Verantwortung gegenüber ihrer Hauptstadt.
Berlin bleibt Heimat der Berliner, aber es gehört allen Deutschen, die auch aufgefordert sind, am Aufbau ihrer Hauptstadt mitzuarbeiten. Berlin ist eine der Nation dienende Hauptstadt, eine Hauptstadt für Deutschland.