Karikatur: Gerhard Mester
Eine Analyse der entscheidenden Bundestagsdebatte läßt schnell die politisch nervöse Stimmungslage erkennen. Die Regierungskoalition stand Anfang 1994 unter starkem öffentlichen Druck. Die Umfragezahlen prophezeiten Bundeskanzler Kohl und der CDU für den Herbst ein Wahldesaster. Allgemein beherrschten die Themen Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung sowie die Diskussion über "Politikverdrossenheit" die Szenerie. Dies hatte sich bereits im Vorfeld der Debatte bemerk-bar gemacht, als (vor allem) in der CDU/CSU-Fraktion eine Vielzahl von Stimmen dagegen laut wurde, die Reichstagsverhüllung überhaupt zum Gegenstand einer Parlamentsdebatte zu machen: Man habe in diesen Zeiten wichtigeres zu tun, hieß es. Die CSU-Landesgruppe sorgte sich gar, eine Zustimmung zum Christo-Projekt würde "der Politikverdrossenheit Vorschub leisten" (Süddeutsche Zeitung vom 2. Februar 1994). Auch der SPD-Abgeordnete Eike Ebert schielte sogar in der Debatte selbst unverhohlen auf die Stimmung in der Bevölkerung und gab zu Bedenken, immerhin seien siebzig Prozent der deutschen Bevölkerung gegen das Projekt eingestellt.
Und aus der CDU/CSU-Fraktion wurde ein Zitat Wolfgang Schäubles kolportiert: "im Falle der Zustimmung zum Projekt würden uns die Leute für bekloppt erklären." (Tagesspiegel vom 2. Februar 1994)
Allein die Entscheidung über die Frage, wer denn nun letztlich die Genehmigung zur Verhüllung zu erteilen habe, wurde mehrfach verschoben. Da eine Einigung im Ältestenrat nicht erkennbar war, versuchten die Unionsparteien zunächst eine Klärung in den eigenen Reihen herbeizuführen. Während in allen anderen Fraktionen keine eindeutige Schwerpunktbildung erkennbar war, schien die Situation in der CDU/ CSU-Fraktion eindeutig: Mit Bundeskanzler Kohl, Fraktionschef Schäuble und dem CSU-Landesgruppenvorsitzenden Glos war die gesamte Führungsspitze eindeutig gegen das Projekt eingestellt. In einer eigens einberufenen Sondersitzung meldete sich dann jedoch eine "erstaunlich hohe" Anzahl von Befürwortern der Aktion (Tagesspiegel vom 2. Februar 1994). In einer Abstimmung votierten 69 Fraktionsmitglieder für das Projekt, 159 lehnten es ab. Daraufhin wurde die Fraktionsdisziplin für die entscheidende Bundestagsdebatte aufgehoben. Interessant bleibt vor allem, daß es die Projektgegner waren, die schließlich eine namentliche Abstimmung der Sache durch das Plenum beantragten. Genau diejenige Gruppierung, die zunächst beanstandet hatte, man habe Wichtigeres zu tun, wertete die Abstimmung insofern deutlich auf. Erklärbar ist dies nur mit der damals in der Bevölkerung herrschenden Stimmung: Durch die erhoffte "Prangerwirkung" einer namentlichen Abstimmung sollten die Befürworter des Projekts diszipliniert, zumindest aber vor ihren Wählern desavouriert werden.
Die Debatte selbst zeigte dann den tiefen Riß, den die Entscheidung quer durch alle Fraktionen getrieben hatte. Dies wurde zuerst deutlich bei der Rede des sonst eher linksliberalen FDP-Abgeordneten Burkhard Hirsch (siehe auch den Beitrag in diesem Band). Hirsch verweist mit nicht geringem Pathos ("Ich sehe die Erstürmung durch die Rote Armee und 40 Jahre danach die Feier der Wiedervereinigung ...") auf die wechselhafte Vergangenheit des Reichstages und stellt ihr gegenüber, nun komme "Herr Christo und verpacke alles". Bereits hier wird, wie auch später in einer Reihe anderer Reden, deutlich, daß die Symbolik des Verhüllens von den Projektgegnern vielfach als ein Verstecken, ein Verschwindenlassen der - für sie so wichtigen - historischen Bezüge des Gebäudes verstanden wird.
Diese Deutung des "Versteckens" machten sich aber auch Projektbefürworter zunutze, die dem Gebäude weniger historische Bedeutung zumaßen. So empfahl der Abgeordnete Keller (PDS), ehemaliger DDR-Kulturminister, ersatzweise die Treuhand oder die Gauck-Behörde "einzupacken". Und der fraktionslose (ex-PDS) Abgeordnete Dr. Briefs empfahl die Verhüllung als "Aktion gegen nationales Spießertum", die Stoff-Bahnen Christos gewissermaßen als Mittel zum Verschwindenlassen einer politisch unangenehmen Vergangenheit.
Der am häufigsten gefallene Satz in der Debatte vom 25.2.1994 war, daß man hier und heute natürlich nicht über Kunst zu entscheiden habe, ein aus meiner Sicht erstaunliches Mißverständnis. Natürlich ging es in erster Linie um die Bedeutung des Reichstags als nationales Symbol, als Verkörperung mehrerer bedeutsamer Epochen der deutschen Geschichte. Die Bedeutung des Reichstags betonen aber sowohl Gegner wie Befürworter des Verhüllungsprojekts. Entscheidend ist also, vor allem wenn man dem Gebäude eine hohe Symbolkraft zugesteht, welche "Form der künstlerischen Zuwendung" man diesem Gebäude als zumutbar erachtet. Mithin kommt es auf den Kunstbegriff, das Kunstverständnis des einzelnen an, weniger auf die Achtung oder Mißachtung des Objektes. Verdeutlichen läßt sich dies besonders an den Reden der Abgeordneten Schäuble und Scharrenbroich (beide CDU).
Unverkennbar ist der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble wie die Mehrzahl seiner Fraktionskollegen der Ansicht, dem Reichstag dürfe man "so etwas" nicht zumuten (der Beitrag in diesem Band). Diese Einschätzung wird auch schon bei kurzen abwertenden Zwischenrufen deutlich, etwa bei "muß man ihn deshalb zudecken", "Kunst, aber nicht Pseudokunst", "würdelos". Schäuble hält zweifelsohne die pathetischste Rede der gesamten Debatte und versucht, seine Kollegen mit den bei ihm häufigen emotionalen Codewörtern zu beeindrucken. Für ihn ist der Reichstag "steinernes Zeugnis deutschen Schicksals in diesem Jahrhundert", das Verhüllungsprojekt nur Selbstzweck, gar Gelegenheit, "unsere freiheitliche Demokratie zu schwächen". Schäuble greift in dieser Debatte auf eine ähnliche Methaphorik zurück wie in der Bundestagssitzung vom 20. Juni 1994, als über den zukünftigen Sitz der Hauptstadt des wiedervereinten Deutschland entschieden wurde.
Schäuble galt damals als derjenige Redner, der mit seinem Beitrag die entscheidende Wendung für Berlin herbeigeführt hatte. Sein Beitrag in der Christo-Debatte ist nahezu identisch angelegt: Zunächst wird die große Bedeutung des Abstimmungsobjektes (Hauptstadt Berlin/ Reichstag) betont und die historische Dimension der Entscheidung aufgezeigt. Als besondere Schäuble-Variante folgt dann die Beschreibung des Objekts als überaus wichtig für das Zusammenführen der Gesellschaft, als konsensstiftendes Mittel, welches einer Polarisierung nicht ausgesetzt werden darf. Hier bezieht sich auch Schäuble auf die angebliche Mißdeutung des Christo-Projekts in der Bevölkerung: "viele Menschen würden diesen Umgang mit einem Bauwerk ... nicht verstehen können".
Ob nun diese Bewertung mit der damaligen Nervosität innerhalb der Partei und der Hoffnung auf Zustimmung in der Bevölkerung beruht, die man im Falle des Scheiterns des Christo-Projektes erhoffte, oder ob Schäuble damit die Bereitschaft der Bevölkerung zur Auseinandersetzung mit dem Projekt schlicht unterschätzt: Die Befürchtung, das Projekt sei "nicht vermittelbar" und daher abzulehnen, findet sich bei allen Gegnern der Verhüllungsaktion. Inwieweit ein unverhüllter Reichstag dann "die Menschen einen, sie zusammenführen wird" (Schäuble), darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, denn er hätte zu keiner Zeit jemals wieder die Aufmerksamkeit gewonnen, die ihm im Rahmen der Christo-Aktion nunmehr zukommt. Interessant bleibt, daß die mit starkem nationalem Pathos getränkte Schäuble-Rede den erhofften Effekt diesmal nicht erzielte. Anders als die Rede in der Bonn/ Berlin-Debatte erzielt sein Christo-Beitrag keinen "langanhaltenden Beifall" in allen Fraktionen mehr, und kaum ein beteiligter Abgeordneter dürfte seine Haltung zum Projekt noch einmal geändert haben. Wie entscheidend das persönliche Kunstverständnis in Relation zur symbolischen Bedeutung des Objektes zu setzen ist, zeigt die Rede des Abgeordneten Scharrenbroich. Dieser bleibt mit seiner Einschätzung der nationalen Bedeutung des Reichstages kaum hinter seinem Fraktionskollegen Schäuble zurück. Für ihn ist jedoch die Verhüllung eine Möglichkeit, diese nationale Bedeutung hervorzuheben und eine Diskussion über die Symbolinhalte zu führen. Seine positive Grundeinstellung zum "Medium Kunst" läßt ihn hierin keine Bedrohung des schon von ihm geschätzten Symbols sehen. Er erhofft sich während der Verhüllungszeit gar eine "Debatte über den Parlamentarismus", zu der er die Bevölkerung einladen will. Für ihn ist die historische Bedeutung des Gebäudes kein Hinderungsgrund, sondern gerade willkommener Anlaß. Bemerkenswert, geradezu rührend naiv ist in seiner wie auch in den Reden anderer Befürworter das Bemühen, den Gegnern der Verhüllung die ästhetische Kraft der Aktion, die Schönheit der verwendeten Materialien näherzubringen. Schließlich darf der Hinweis auch nicht fehlen, "dem Gebäude selbst werde ja nichts geschehen" (Manfred Richter, FDP). Naheliegend ist in diesem Zusammenhang die köstliche Ironie, daß einen Tag nach der Christo-Aktion Bauarbeiter anrücken werden, um das Gebäude mit Planen zu verhängen, über die sich niemand aufregen wird ...
Neben den eigentlichen Debattenrednern gaben eine außergewöhnlich große Zahl von Abgeordneten ihre Meinung schriftlich zu Protokoll, wobei eine Vielzahl der Debattenargumente bekräftigt wurden. Einige Beiträge hätten im Plenum die Situation sicherlich weiter aufgeheizt, so etwa wenn der Abgeordnete von Stetten mitteilt, er fühle sich von Christo ("sicher auch ein Künstler") an der Nase herumgeführt, der Abgeordnete "einlulle", um mit einem großen Spektakel ein Millionengeschäft zu machen. Christo wolle schlichtweg Geld und Publicity... Die Möglichkeit, Reden nur zu Protokoll zu geben, entwickelt so gelegentlich eine entspannende Wirkung für die eigentliche Debatte.
In der Abstimmung votierten schließlich von 531 Abgeordneten 295 mit ja, 226 mit nein, 10 enthielten sich der Stimme. Seitdem ist zunehmend zu beobachten, daß damalige Gegner des Projekts neugierig werden und ihre Position überdenken. Anders als in der Bonn/Berlin-Debatte haben die stark national argumentierenden Gegner keinen Nachhall erzielt.
Entscheidend hierfür dürfte gewesen sein, daß die Bonn/Berlin-Debatte noch in einer Atmosphäre der "nationalen Besoffenheit" (Wolfgang Herles) stattfand, während sich drei Jahre später eine Vielzahl von Enttäuschungen und allgemein Ernüchterung eingestellt hatte. Die Debatte über das vermeintlich wichtigste nationale Symbol fand schlichtweg in einer ruhigen und unaufgeregten Gesamtstimmung statt. Die Rückkehr zur Normalität hat vielleicht geholfen, den einen oder anderen Abgeordneten experimentierfreudiger und toleranter zu stimmen.