Abgestimmt wurde nicht über Kunst, denn über Kunst kann nicht mit Mehrheit entschieden werden. In der Demokratie kann lebhaft über Kunst gestritten werden, aber die Bestimmung dessen, was Kunst ihrem Wesen nach ist, entzieht sich der Mehrheitsabstimmung, kann auch nicht vom Staat mit Geltung für alle festgelegt werden.
Abgestimmt wurde darüber, ob der Deutsche Bundestag es Christo ermöglicht, das Reichstagsgebäude, den zukünftigen Sitz des Bundestages, zu umhüllen.
In der Begründung zu dieser Beschlußvorlage (Drucksache 12/6767) hieß es: "Das Reichstagsgebäude ist ein würdiges Symbol der deutschen Geschichte und verdient großen Respekt. Dies wird durch das Kunstwerk besonders verdeutlicht. Bevor die Umbauten des Reichstags zum Bundestag beginnen, liegt in der Verhüllung eine große Chance, die Zäsur in der Geschichte der Deutschen deutlich zu machen."
Die Umhüllung dieses vor 100 Jahren durch den Architekten Wallot errichteten Reichstags gibt dem Bau eine andere, ästhetisch überraschende Gestalt. Sie verfremdet, macht aber zugleich sichtbar, was sich unserer Wahrnehmung bisher verschloß. Sie schärft unseren Blick für Struktur und Eigenart einer Architektur, für den Geist eines anderen Jahrhunderts, eines anderen Lebensgefühls, eines anderen Baustils.
Das Reichstagsgebäude, der zukünftige Sitz unseres Parlaments, ist das Haus des Volkes und trägt auf seinem Portal die Inschrift "Dem Deutschen Volke". Dieses Haus wird durch die künstlerische Umhüllung nicht herabgesetzt, sondern herausgehoben, wie es der Kunsttradition der Verhüllung seit der Antike entspricht. Denken wir an bedeutende Gestalten der Antike, des Mittelalters und die Könige der Barockzeit. Es geht um das Besondere, das aus dem Alltag Herausgehobene, nicht das Alltägliche. Kunst verwandelt, schafft Neues, Ungewohntes, unserem Blick und unserer Vorstellungswelt zunächst Fremdes.
Gerade weil dieses Gebäude ein politisches Symbol von herausgehobener Bedeutung ist, in dem sich mehr als 100 Jahre Höhen und Tiefen deutscher Geschichte widerspiegeln, liegt es nahe, dem auch künstlerisch Ausdruck zu geben.
Vergessen wir dabei nicht die Brandstiftung und die politische Zerstörung vor 1933, das Trümmerfeld vom April/Mai 1945. Nach dem Wiederaufbau in den siebziger Jahren durch den Architekten Baumgart durfte der Reichstag nicht für die Zwecke des Bundestages genutzt werden: keine Wahl des Bundespräsidenten, keine Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages.
Vergessen wir auch nicht seine räumlich-politische Lage. Der Gang zum Reichstagsgebäude war der Gang zur Mauer, zum Schandmal der Teilung Berlins und unseres Landes. Dieses Gebäude, das nach dem Willen der SED nie wieder Ort eines gesamtdeutschen Parlaments werden sollte, dieses Gebäude ist es wahrlich wert, auch Gegenstand der Kunst zu sein mit ihren höchsten Anstrengungen und bildlichen Ausdrucksformen.
In vier Wochen findet das künstlerische Ereignis der Verhüllung statt. Unsere Bürger und Bürgerinnen, die Menschen in Europa und in der Welt werden sich ein Urteil bilden, nehmen direkt oder indirekt teil an diesem Geschehen, genießen oder kritisieren es.
Christo hat 23 Jahre für dieses Projekt gekämpft. Er suchte mich erstmals 1989 auf. Vor mir hat er bei meinen Vorgängern, Philipp Jenninger wie Rainer Barzel und Annemarie Renger, um Zustimmung geworben. Der Weg Christos war voller Widerstände und der Erfolg bis zum letzten Augenblick, bis zum Ergebnis der Abstimmung, offen. Ich hatte von Anfang an große Sympathien für dieses Vorhaben. Was mich aber vor dem Fall der Mauer bewegte, war die politische Mißdeutung dieser Verhüllung durch die SED, die mögliche Propaganda vom politischen Ende dieses Parlamentsgebäudes. Diese Bedenken lösten sich mit dem Fall der Mauer auf.
Ich habe oft mit Christo gesprochen, mich intensiv mit seinen früheren Projekten, mit seiner künstlerischen Arbeit auseinandergesetzt. Ich war und bleibe überzeugt von seiner Idee. Andere haben sich gegen die Verhüllung ausgesprochen mit dem zentralen Argument, daß eine solche Begegnung von Kunst und Politik dem Parlamentsgebäude in seiner Würde nicht entspreche.
Ich respektiere diesen Standpunkt, aber ich sehe es anders und hoffe, daß es gelingt, Gestalt, Geschichte und Bedeutung dieses besonderen Bauwerks durch die Kunst, durch die künstlerische Verhüllung und Beleuchtung neu sichtbar zu machen.
Mir fallen wichtige Bilder zur Demokratie ein. Die Demokratie beansprucht Transparenz. Und doch muß das Besondere der Demokratie als Staats- und Lebensform immer wieder neu herausgearbeitet und sichtbar gemacht werden.
Es gilt, unsere Sicht zu schärfen für die Stärken und Schwächen, für die offenkundigen und eher verborgenen Merkmale demokratischen Denkens und Handelns. Es gilt, immer wieder "hinter den Vorhang" der parlamentarischen Arbeit, des Öffentlichen oder öffentlich nicht Beachteten zu schauen. Vor allem gilt es, das Unbeachtete, das Unverzichtbare des Demokratischen bewußt zu machen, unsere Sinne, unser Denken und Handeln für den Erhalt der Demokratie einzusetzen. Das Reichstagsgebäude, Demokratie und Parlamentarismus, haben eine wechselvolle Geschichte in Deutschland. Die Demokratie hat sich in unserem Land durchgesetzt und obsiegt. Der Reichstag wird wieder der zentrale Ort unseres Parlaments sein. Die Verhüllung des Parlamentsgebäudes steht symbolisch für Anerkennung, Achtung und Schutz der Demokratie. Freuen wir uns über diese Würdigung!