hide random home http://www.kulturbox.de/christo/buch/roloff.htm (Einblicke ins Internet, 10/1995)

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Virtuelles Parlament
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Ulrich Roloff-Momin

Reichstagsverhüllung: Ein würdiges Zeichen

Die Idee der Verhüllung des Reichstags hat mich nicht mehr losgelassen, seit mir Jeanne-Claude und Christo ihr Projekt 1975 in New York zum ersten Mal vorstellten. Jedesmal, wenn ich seither am Reichstag in Berlin vorbeikam, ihn betrat oder verließ, hatte ich die Zeichnungen des verhüllten Bauwerkes im Kopf. Ich gestehe: Die Frage, ob man ein solches Gebäude überhaupt zum Gegenstand einer Kunstinszenierung machen darf, trieb mich nie um. Der skeptische Gedanke, ob es mit der Würde und der Geschichte des Reichstages zu vereinbaren wäre, ist mir angesichts der Seriosität dieses Projektes nie selbst gekommen. Ich respektiere jedoch solche Überlegungen, soweit sie nicht zum Vehikel gemacht wurden, das ganze Ansinnen zu zertrümmern.

Die Diskussion um diese Reichstagsverhüllung wie auch der Zeitpunkt, zu dem sie schließlich ins Werk gesetzt werden konnte, läuft parallel zur Diskussion um die Rolle der alten und neuen Hauptstadt Deutschlands, und folgerichtig war die Realisierung des Projektes erst möglich, als der Wallot-Bau ein Symbol für das vereinte Deutschland wurde: nach dem Fall der Mauer und nach dem Hauptstadtbeschluß des Deutschen Bundestages am 20. Juni 1991.

Jahrzehntelang hatte der Reichstag - von einigen demonstrativen Bundestagssitzungen und Wahlakten abgesehen - ein eher beschauliches Leben am Rande des West-Berliner Zentrums gefristet, nur wenige Schritte vom Ost-Berliner Grenzstreifen entfernt. Der davor liegende Platz der Republik, bis zum Mauerbau Ort bewegender Freiheitsveranstaltungen (Ernst Reuter: "Völker der Welt, schaut auf diese Stadt") und machtvoller Maikundgebungen mit bis zu einer Million Teilnehmern, diente als Freizeitfläche für Fußballspiele oder gewerkschaftliche Familienfeste. Inneres Leben brachten dem Reichstag nur die Besuchergruppen der Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte" und einige Ausschuß- und Fraktionssitzungen des Deutschen Bundestages.

In das internationale Rampenlicht trat der Reichstag erst, als ihn Jeanne-Claude und Christo zum Gegenstand ihrer künstlerischen Konzeption machten. Seither hat er eine größere internationale Bekanntheit als der Neubau des Deutschen Bundestages in Bonn und liegt dicht hinter dem offenen Brandenburger Tor als internationalem Symbol für das Ende des Kalten Krieges. Das allerdings ist ein - wenngleich erfreulicher - Nebenaspekt. Viel wichtiger ist, daß allein schon die Idee, dieses Bauwerk zu verhüllen, die Gemüter heftigst bewegte und noch bewegt; daß entschiedene Ablehnung und begeisterte Zustimmung sich gegenüberstehen und dies von Menschen, die sich noch nie mit dem Reichstagsgebäude beschäftigt haben, sich nun aber aufgerufen bzw. herausgefordert fühlen und Stellung beziehen. Und mit Recht, handelt es sich doch nicht um irgendein Gebäude, sondern um das erste Parlamentsgebäude, das für das geeinte Deutsche Reich 1884 bis 1894 erbaut wurde und in der Weimarer Republik der Ort demokratischer Auseinandersetzung und das Objekt des Hasses aller rückwärtsgerichteten autoritären und restaurativen Kräfte war, die ihr Ziel schließlich mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, die in diesem Hause nie eine Mehrheit hatten, erreichten. Der Reichstag selbst hat diese Machtübertragung als Parlament nur wenige Tage überdauert. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 fiel er einer Brandstiftung zum Opfer und erlangte seither seine ursprüngliche Funktion nicht mehr wieder. Nun steht der Umbau für seine neuerliche Funktion als Sitz des deutschen Parlamentes im wiedervereinigten Berlin bereit, und die Verhüllung leitet zu dieser Phase über.

Damit wächst das Projekt weit über seine herausragende ästhetische Bedeutung hinaus und gewinnt eine Symbolkraft für den gesamten Prozeß der Umgestaltung, der unsere Stadt und unser Land in dieser Zeit prägt, der aber darüber hinaus - seit dem Satz von Michail Gorbatschow vom gemeinsamen Haus Europa, das wir durch den Fall der ehernen Grenzen durch diesen Kontinent völlig neu zu gestalten haben - viel weiter greift.

Die außerordentlich hohe Symbolkraft des Gebäudes zeigte sich im April 1945, als die Rote Armee unter großen Verlusten die zerbombte Ruine des Reichstagsgebäudes erstürmte und mit der Aufpflanzung der sowjetischen Fahne das Ende des Krieges in Berlin markierte. Nicht der Kampf um den Führerbunker, nicht der Fall der Ministerien an der Wilhelmstraße als den Schaltzentralen des untergehenden Systems der nationalsozialistischen Diktatur, sondern der Sitz des letzten freigewählten Parlamentes war das Symbol des Sieges und der Befreiung.

Ebenso, wie man Dinge des alltäglichen Umganges, die man sonst gar nicht wahrnimmt, richtig vermißt, wenn sie einmal weg sind, ergibt die Verhüllung des Reichstages nicht nur einen Blick auf die Grundlinien dieses Bauwerkes, der sonst durch die ornamentale Fülle der Fassade abgelenkt wird, sondern darüber hinaus fordert sie ein Nachdenken von uns, was uns dieses Haus bedeutet, welche Hoffnungen und Erwartungen wir damit verbinden, welches Verhältnis wir zur Vergangenheit und zur Zukunft des Wallot-Baus haben. Aber nicht nur das: Auch im Ausland wirft das Verhüllungsprojekt Fragen auf, wie es denn mit dem wiedervereinigten Deutschland weitergeht, was der Wechsel von der Bonner zur Berliner Republik, der mit der Verlagerung des Parlamentssitzes manifestiert wird, bedeutet. So wird die Hülle zur Eierschale, aus der heraus das Neue erwächst, so schärfen die klaren Konturen, die durch die Hülle herausgearbeitet werden, den Blick auf die Strukturen, nicht nur des Bauwerkes selbst, sondern auch der Inhalte.

Insofern ist das Projekt von Jeanne-Claude und Christo so passend und von solcher Würde gerade an diesem Objekt und zu diesem Zeitpunkt, daß man es geradezu erfinden müßte, wenn es nicht schon seit so vielen Jahren verfolgt werden würde. Die Symbolkraft dieses Bauwerkes wird durch die Verhüllung nicht gemindert. Im Gegenteil: Sie focussiert den differenzierten Vorgang der Identitätsbildung in einer Weise, wie ich mir kein zweites Projekt vorzustellen vermag, was dies so leisten könnte.

Schließlich aber, und da würde kein Kulturverantwortlicher etwas anderes sagen können, ist die Reichstagsverhüllung ein künstlerisches Projekt von größter Attraktivität und herausragender Bedeutung für die Stadt Berlin. Es stellt eine Herausforderung an die Kulturstadt Berlin dar und ist zugleich die prominenteste Bereicherung ihres Angebotes seit Jahrzehnten. Gerade das finanziell gebeutelte Berlin, das sich im Übergang von zwei Halbstädten zur deutschen Hauptstadt befindet, bekommt durch Jeanne-Claude und Christo einen künstlerischen Energiezuwachs und ein international wirkendes Zeichen.


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