Die demokratische Infrastruktur und ihre rechtliche Grundlagen
Der informierte Bürger als Leitbild der Demokratie?
Ich bin sehr gerne der Einladung der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft
gefolgt, zu dem Thema "Politikfähigkeit medial bestimmter
Demokratien" einige Anmerkungen zu machen. Anmerkungen, weil
das Thema in seiner breiten und zentralen Bedeutung für die
Entwicklung und Lebenskraft der demokratischen Gesellschaften
hier nur ansatzweise angesprochen werden kann.
Mit dem
Hörfunk in den dreißiger und dem Fernsehen in den fünfziger
Jahren sind neue Massenmedien entstanden, die zwar nicht den vielbeschworenen
Abschied vom Gutenberg-Zeitalter gebracht, aber das gesellschaftliche
Leben und die Politik erheblich beeinflußt haben.
Der durchschnittliche
Medienkonsum eines erwachsenen Bundesbürgers beträgt
heute über 5 Stunden täglich, am Wochenende steigert
er sich auf 6 bis 7 Stunden. Zwei Drittel dieser Zeit wird den
elektronischen Medien gewidmet.Und in Zukunft?
Die Fernsehzuschauer,
und dazu zählen wir alle, sind längst zu Gefährten
auf dem Weg in die Informationsgesellschaft geworden. Wir stehen
am Beginn der nächsten Phase elektronischer Mediennutzung
in Form interaktiver, multimedialer Informationstechniken. Fernsehen,
Telekommunikation und Computertechnik wachsen zusammen.
Die Einführung
der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien schreitet
stürmisch voran. Kabelrundfunk und Satellitenfernsehen, Multimediatechniken,
computergesteuerte Arbeitsabläufe und Maschinen in der Gütererzeugung
und bei Dienstleistungen, Personalinformationssysteme, Heimcompter
- das sind nur einzelne Elemente einer neuen technischen Entwicklung.
Sie erfaßt jetzt schon auch die alltäglichen Lebensbereiche.
Die überragende
Bedeutung der Informationstechnik beruht darauf, daß sie
Werkzeuge für die Unterstützung intelligenten Handelns
und Verhaltens bereitzustellen vermag. Damit wird eine wesentliche
menschliche Fähigkeit verstärkt, Information nicht nur
zu reflektieren, sondern aktiv zur Gestaltung materieller und
immaterieller Güter zu nutzen. Die Systeme, Einrichtungen
und Methoden der Informationstechnik haben so die Funktion genereller
Leistungsverstärker; sie stellen zunehmend das Gehirn und
Nervensystem von Gesellschaft und Wirtschaft dar.
Die Informationsgesellschaft
wird die Wirtschafts- und Arbeitswelt verändern. Virtuelle
Organisationsformen bilden sich aus, bei denen der genius loci
keine Rolle mehr spielt. Es entstehen neue Beschäftigungsfelder,
vor allem im Dienstleistungsbereich. Neue Kommunikationsformen,
wie Videokonferenzen, ersetzen Geschäftsreisen. Die Trennung
von Arbeit, Familie und Freizeit löst sich auf.
Eine ähnliche
Schlüsselrolle hat die Informationstechnologie inzwischen
für Bildung und Ausbildung. In die Schulen sind der computerunterstützte
Unterricht und die Informatik eingezogen. Lebenslanges Lernen
wird mit PC, Disketten und Videogeräten zu einer gesellschaftlichen
Wirklichkeit, auch wenn sich der Lehrbetrieb bisher nur zögernd
auf diese neuen Dimensionen einläßt.
Kaum auszumachen
sind die kulturellen Wirkungen. Via Internet sind wir omnipräsent,
zu jeder Zeit an jedem Ort. Die Welt schrumpft auf Bildschirmformat.
Am online geschalteten PC hört man via Internet das Murmeln
und Plappern der ganzen Welt. Man ist Weltbürger im heimischen
Winkel. Aber - und nicht weniger revolutionär - Bürger
in einer virtuellen Welt.
Welche
Wirkungen wird diese Entwicklung auf die Demokratie und die politischen
Entscheidungsprozesse haben? Welche Spannungsfelder tun sich auf?
Welche Risiken bestehen, welche Chancen eröffnen sich?
Ich will
an drei Fallbeispielen eine Annäherung an eine Antwort versuchen,
die hier nur vorläufig und thesenhaft sein kann. Zuerst mit
Blick auf die demokratische Infrastruktur und ihre rechtliche
Grundlagen, konkret auf Rundfunk, Kartellrecht und Datenschutz.
Die Vermutung, daß die neuen Mediennetzwerke nicht nur der
Informationsfreiheit ganz neue Räume erschließen, sondern
auch Fallstricke bereithalten, ist nicht abwegig.
Die rechtlichen
Voraussetzungen der Informationsgesellschaft sind maßgeblich
von Art. 5 GG geprägt, sowohl unter dem Aspekt der Meinungs-
und Informationsfreiheit als auch des Medienordnungsrechts, insbesondere
des Rundfunk- und Pressebegriffs.
Wie das
Bundesverfassungsgericht mehrfach zum Ausdruck gebracht hat, will
Art. 5 des Grundgesetzes den Kommunikationsprozeß insgesamt
verfassungsrechtlich schützen und die freie, individuelle
und öffentliche Meinungsbildung gewährleisten. Deswegen
darf auch die Kommunikationsinfrastruktur nicht unter einseitigen
Einfluß Einzelner oder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen
geraten.
Daraus
ergibt es sich, daß bei Vorliegen einheitlicher Netze für
eine Vielzahl von verschiedenen Diensten alle Anbieter und Nutzer
zu gleichen Bedingungen Zugang zu den Netzen haben müssen.
Die an
alle Anbieter zu stellenden Anforderungen wie auch die objektiven
Auswahlkriterien bei Kapazitätsengpässen müssen
gesetzlich fixiert werden. Auf der Dienstleistungsebene sind chancengleiche
Wettbewerbsbedingungen mit möglichst wenig Regulierungen
zu schaffen, um ein möglichst freies Meinungs- und Informationsspektrum
zu erreichen.
Praktisch
bedeutet das, daß der Informationsverkehr über Datennetze
nach den Regeln des Brief- und Telefongeheimnisses unter dem Schutz
der grundsetzlich garantierten Meinungsfreiheit steht. Kontroll-
und Überwachungsmaßnahmen werden wegen des Verdachts
von kriminellen oder staatsgefährdeten Handlungen oder Verabredungen
unter den entsprechenden strengen Auflagen zu handhaben sein,
wie sie auch für die Überwachungsmaßnahmen des
Brief- oder Telefonverkehrs gelten. Die allgemeine Zensurfreiheit
des Brief- und Telefonverkehrs und die Verantwortung des einzelnen
Teilnehmers oder Moderators der Internetdienstinhalte, nicht des
Netzbetreibers, wird entsprechend anzuwenden sein.
Eine einheitliche
Kommunikationsinfrastruktur steht auch dem klassischen Rundfunk
als Transportmittel offen und kann diesen durch neue Angebote
erweitern, aber auch im Kern verändern. Auch der Presse bieten
sich durch elektronisches Publizieren und den Verzicht auf Druckwerke
im Sinne des Presserechts neue Möglichkeiten, die breits
aktiv genutzt werden.
Aber: Die
bisherigen Grenzen zwischen Individual- und Massenkommunikation
zwischen Rundfunk und Presse lösen sich auf. Der traditionelle
Rundfunkbegriff reicht für die Regelung der vielfältigen
neuen Möglichkeiten deshalb nicht mehr aus. So wird vor allem
zwischen dem allgemeinen Informationsbegriff und dem individuellen
Dienst-Angebot zu unterscheiden sein; Telebanking z.B. ist zweifellos
nicht Rundfunk. Andererseits wird es und gibt es Dienste mit massenkommunikativem
Charakter, etwa Informationsdienste wie Wettervorhersage oder
Fahrplanauskünfte. Sollten solche Dienste dem Rundfunkbegriff
zugeordnet werden oder sind sie nicht vielmehr individuell, interaktiv
abrufende Individualkommunikation? Eine Neudefinition des Rundfunkbegriffs
mit entsprechenden Klarstellungen ist daher dringend geboten:
Angesichts
der neuen Möglichkeiten des elektronischen Publizierens muß
auch der Pressebegriff überdacht werden, da dieser entscheidend
vom Begriff des "Druckwerks", d.h. der physischen Existenz
eines Informationsträgers geprägt ist.
Die Regelungen
des Wettbewerbsrechts werden im Hinblick auf mögliche Benachteiligung
von lokalen und kleinen/mittleren Unternehmen gegenüber großflächig
werbenden Kaufhausketten und Versandunternehmen überprüft
werden müssen. Das Kartellrecht ist gefordert, neue Regelungen
für Presse- und Medienkonzentrationen, aber auch vertikale
und horizontale Integration von Mikroelektronik-, Telekommunikations-
und Netzeunternehmen zu entwickeln. Dazu finden zur Zeit im Rahmen
des vom Bundeskanzler berufenen Technologie- und Innovationsrates
intensive Beratungen von Wirtschaftsjuristen statt.
Nicht zuletzt
wird an Regelungen zu denken sein, die verhindern, daß es
zu neuen Monopolbildungen zwischen Programmanbietern, Netzebetreibern
und Endgeräteherstellern kommt, die nicht nur den Wettbewerb
in den einzelnen Branchen, sondern insgesamt im Bereich der neuen
Informationsangebote zum Erliegen bringen würden.
Sowohl
für den Schutz geistigen Eigentums bei der individualisierten
Verbreitung über Telekommunikationsnetze wie für den
Datenschutz von Anbietern und Nutzern (z.B. Verbot von Aufzeichnungen/Kontrolle
über individuelles Nutzerverhalten) sind neue Regelungen
erforderlich.
Auch dazu
beraten zur Zeit innerhalb des Technologie- und Innovationsrates
im Bundeskanzleramt Rechtsexperten, damit die gegenwärtige
Rechtsunsicherheit bei der Nutzung geistigen Eigentums im Anschluß
an Druckveröffentlichungen zum Beispiel in Form von Disketten
oder über Datennetze beendet wird, damit auch in Zukunft
beispielsweise der freie Austausch von Forschungsergebnissen und
neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in allen wissenschaftlichen
Zweigen gewährleistet bleibt und nicht aus Sorge vor einer
rechtlich nicht geschützten, unbegrenzten Nutzung solcher
Ergebnisse Forschungsresultate zurückgehalten oder nur in
internen Kreisen verarbeitet werden.
Beispielsweise
könnte der Öffentlichkeitsbegriff des Urheberrechtsgesetzes
dahin geändert werden, daß eine für mehrere, persönlich
nicht verbundene Empfänger bestimmte Übermittlung auch
dann öffentlich ist, wenn jeweils nur eine Person (über
das Datennetz) erreicht wird und damit der Schutz des Urheberrechts
auch für diese Form der Übermittlung gesichert ist.
Schließlich
müssen im Interesse des Jugend- und Persönlichkeitsschutzes
Regelungen geschaffen werden, die den Mißbrauch z.B. durch
politische Extremisten oder Pornographie soweit wie möglich
ausschließen. Wenn Rechtsradikale oder Schmuddelproduzenten
zu Trittbrettfahrern der multimedialen Entwicklung werden, hört
der Spaß auf.
Befürwörter des multimedialen Siegeszuges betonen vor
allem die Chance, daß der informierte Bürger als Leitbild
der Demokratie endlich Wirklichkeit werden könnte.
Mit Hilfe
der neuen Medientechniken, globalen Datennetze, E-Mail, Mailboxen,
Videokonferenzen und öffentlichen Multimedia-Terminals könnten
Informationsprozesse der Bürger und Institutionen unter-
und miteinander qualitativ so verbessert und verfeinert werden,
daß "Computerdemokratie" als angemessene Antwort
auf gegenwertige Politikprobleme, auf Unübersichtlichkeit,
Orientierungsschwierigkeit und Komplexitätsbewältigung
verstanden werden kann.
In der
Tat bieten die elektronischen Massenmedien die Möglichkeit,
eine bisher völlig undenkbare Fülle von Informationen
zu vermitteln, komplexe Zusammenhänge zu erläutern und
den unmittelbaren Kontakt zu den Trägern politischer Verantwortung
dauerhaft herzustellen.
Welche
Breitenwirkung ein elektronisches Informationsangebot erreichen
kann, haben zu meiner eigener Überraschung die Erfahrungten
mit den im Internet angebotenen Informationen des BMBF gezeigt:
In den ersten beiden Monaten, März und April dieses Jahres
wurden über 100.000 Nutzungen registriert - mit immer noch
steigender Tendenz!
Zugleich
sollten wir uns vor dem Irrtum hüten, die Informationsgesellschaft
sei gleichsam automatisch auch eine informierte Gesellschaft aus
lauter umfassend informierten Bürgern. Denn Quantität
ist nicht gleich Qualität. Wenn sich die Milliardeninvestitionen
im Medienbereich allein mit Erlösen aus Video-On-Demand,
Telespielen, Pornographie und Pizza-Bestellservice rechnen sollen,
wird aus der Informationsflut schnell eine Informationsdürre.
Die Informationsfülle
hat auch inflationäre Wirkung. Welche Information hat Wert?
Welche ist wertlos?
Die ungeschriebenen
Mediengesetze der Aktualität, des Vorrangs des Überraschungs-
und Neuigkeitswertes und der Kurzlebigkeit laufen Gefahr, Zusammenhänge
zu vernachlässigen und letztlich Verwirrung und Desinteresse
zu stiften.
Die Selektionsmechanismen
der Medien sind eher "telekratisch" denn demokratisch.
Personen, die auf die öffentliche Meinung einwirken wollen,
müssen permanent in den Medien präsent und habituell
in der Lage sein, ihre Zielsetzungen mediengerecht zu vermitteln
- möglichst innerhalb von 15 Sekunden, denn mehr Sendezeit
lassen die Nachrichtenredaktionen nicht zu. Politiker ihrerseits
laufen Gefahr, den Medien den Schwarzen Peter zuzuschieben, auch
wenn sie gleichzeitig versuchen, zum eigenen Ruhm auf der medialen
Tastatur kraftvoll aufzuspielen.
Schon das
macht, trotz aller berechtigter Kritik im einzelnen, Medienscheite
wenig überzeugend. Sinnvoller scheint mir, daß sich
die Politik angesichts der feilgebotenen Informationsfülle
auf ihre Aufgaben konzentriert auszuwählen, zu gewichten,
Gestaltungsoptionen zu offerieren. Oder - wie Roman Herzog schon
1984 formulierte:
"Die Fülle der verfügbaren Daten enthebt die
Politik keineswegs der Notwendigkeit, Ziele zu formulieren. Im
Gegenteil: die Notwendigkeit stellt sich drängender denn
je, da die wirklich relevanten Informationen sich nicht ohne weiteres
zu erkennen geben.
Hier muß der Politiker heute ein Gespür für
das künftige Gewicht für Informationen beweisen. Er
muß erkennen können, was wichtig wird und was nicht.
Dabei ist vieles, was er gerne wüßte, gar nicht oder
nur unzulänglich in Erfahrung zu bringen. Komplexität
und Dynamik unserer Gesellschaft übersteigen die Kapazitäten
jedes Beobachtungs- und Prognoseinstrumentariums. Ich fürchte,
daß wird immer so bleiben; eigentlich hoffe ich es auch.
Deshalb sind klare Gewichtung und Prioritäten um so unerläßlicher."
Ebenfalls
von Roman Herzog stammt der Satz: "Die repräsentative
Demokratie bekommt in der Informationsgesellschaft Konkurrenz."
Hinter diesem Diktum verbirgt sich die Frage, ob die neuen Kommunikationstechnologien
nicht auch neue Chancen der politischen Mitwirkung und Beteiligung
eröffnen und somit dazu beitragen könnten, den politikverdrossenen
Bürger versöhnlich zu stimmen.
Um der
Sache auf den Grund zu gehen, ist es vielleicht hilfreich, zwischen
Teilnahme und Anteilnahme zu unterscheiden. Die Medienwirkung
macht die Anteilnahme der Öffentlichkeit an politischen Konflikten
und Umstürzen, an Naturkatastrophen und der Bedrohung der
Umwelt, aber auch am sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt,
an Entwicklung von Freiheit und Demokratie in großen Teilen
der Welt in zunehmendem Maße für alle Menschen möglich.
Aus Anteilnahme
kann Mitverantwortung entstehen - viele Beispiele spontaner Hilfsbereitschaft
für Menschen in Not, für Menschen unter politischer
Unterdrückung und für die gefährdete Natur in allen
Teilen der Welt machen dies deutlich; in den letzten Jahren ist
durch die Informationstechnik ein neues Verhältnis für
globale Verantwortung gewachsen, das nicht zuletzt viele junge
Menschen in unserer Gesellschaft zu Initiativen und Engagement
geführt hat.
Die Forderung,
mehr Teilnahmechancen zu eröffnen, gehört wiederum zum
Repertoire der aktuellen Demokratiekritik. Für Brian Beedham,
einem der Mitherausgeber des Economist, ist ausgemacht, daß
wir mit den gegenwärtigen praktizierten Formen der repräsentativen
Demokratie in der Sackgasse festsitzen.
Da sich
die alten Unterschiede von Bildung und sozialer Herkunft auflösten,
würde es zunehmend schwieriger, Leute davon zu überzeugen,
daß sie nur in der Lage seien, alle vier Jahre einen Wahlschein
in die Urne zu werfen und daß eine Handvoll Männer
und Frauen, die sie damit in das Parlament entsendeten, berechtigt
seien, alle anderen Entscheidungen für sie zu treffen. Ist
damit der Weg zur direkten elektronischen Demokratie die logische
Konsequenz?
Mehr Direktkommunikation,
mehr Verständnis durch Information zu übergreifenden
Fragestellungen und Zusammenhängen unserer Gesellschaften,
mehr Zugang zu ausgewählten Direktinformationen können
die Funktion des aktiven Bürgers festigen, der die Grundlage
funktionierender demokratischer Systeme bildet. Durch interaktive
Fernsehdiskussionen, durch Meinungsforschung in vernetzten PC-Systemen
werden völlig neue Formen der unmittelbaren Beteiligung von
Bürgerinnen und Bürgern am politischen Meinungsbildungsprozeß
geschaffen.
Dennoch:
Auch wenn die neuen Medien neue Interaktionsmöglichkeiten
zwischen Politik und Bürgerschaft ermöglichen, können
und sollten sie nicht das Repräsentationsprinzip ersetzen.
Die beabsichtigte "Demokratisierung" durch Mediatisierung
würde in ihr Gegenteil umschlagen.
Die Argumente,
die für direkt-demokratische Verfahren ins Feld geführt
werden, sind nicht überzeugend. Für viele Befürworter
stellt erst die plebiszitäre Demokratie die wahre Volksherrschaft
dar. Nur sie verhelfen dem Bürger als Souverän zu seinem
Recht. Differenzierte Positionen sehen die Chance, den Mitgestaltungswünschen
der Bürger stärker zu entsprechen, als dies in der "Zuschauerdemokratie"
(Rudolf Wassermann) der Fall sei. Der Bürgerwille käme
stärker zum Tragen, die Entfremdung zwischen Politik und
Bürgerschaft würde überwunden. Mehr unmittelbare
Bürgerbeteiligung und Entscheidungsbefugnis wirke dem Übergewicht
der Parteien entgegen und stärke die Bereitschaft zum Bürgerengagement.
Sie steigere damit die Lern- und Konsensfähigkeit des politischen
Systems insgesamt, mithin die Rationalität demokratischer
Herrschaft.
Solche
Argumente sind wohlklingend, aber nicht stichhaltig. Zugespitzt
formuliert: Der Bürger wird ja nicht dadurch aktiver, daß
man ihm seine Zuschauerrolle komfortabler ausgestaltet, also vom
Fernsehsessel aus seine Entscheidungsmöglichkeiten per Knopfdruck
erhöht.
Plebiszitäre
Meinungs- und Willensbildungsformen führen zudem fast zwangsläufig
dazu, komplexe Sachverhalte in einfache Ja-Nein-Schemata zu pressen
und zu vermeintlich klaren Entscheidungsalternativen zu stilisieren.
Der erwartete Rationalitätsgewinn droht eher in einen Verlust
umzuschlagen.
Politische
Legitimität basiert, wie nicht zuletzt die Vielzahl von Untersuchungen
zur Politikverdrossenheit herausgearbeitet haben, vor allem auf
der Effektivität politischer Entscheidungsverfahren, insbesondere
auch auf der Durchschlagskraft und Verantwortlichkeit der parlamentarischen
Arbeit.
Hingegen
kommt die Verlagerung von Entscheidungsmacht auf die Träger
von Plebisziten einer bewußten Entparlamentarisierung und
damit Schwächung der Funktions- und Integrationsfähigkeit
des Parlaments gleich. Kreist erst einmal das plebiszitäre
Damoklesschwert über den Köpfen der Parlamentarier,
dann ist es mit ihrer Entscheidungsfreiheit nicht mehr weit her.
Sie aber bildet eine wesentliche Voraussetzung ihrer Verantwortlichkeit,
die sich auch gerade dadurch einstellt, daß sie von Dauer
ist und sich nicht auf einmalige Entscheidungsmomente beschränkt.
Der Bürger
im TED-Verfahren stimmt mit "Ja" oder "Nein",
aber seine Entscheidung bleibt auf der Tagesordnung. Jederzeit
kann er zur Rede gestellt werden, muß er begründen
und belegen. Er muß damit rechnen, immer aufs neue an seine
Entscheidung und Ihre Folgen erinnert zu werden. Es ist dieses
"Gesetz des Wiedersehens" (Claus Offe), das ihm den
Rückzug aus der Verantwortung durch die Hintertür plebiszitärer
Entscheidungen versperrt.
Entscheidung
und Verantwortung gehören zusammen. Sie wieder stärker
zu verzahnen ist eine der Reformaufgaben, die vor uns liegen.
ie Forderung nach mehr Entscheidungsbefugnissen der Bürger
ist berechtigt. Komplementär dazu müssen aber die Gestaltungsräume,
in denen die Bürger eigenverantwortlich handeln, wieder größer
werden. Weniger Staat und weniger Politik sind dabei notwendige
Konsequenzen.
In der
Vergangenheit haben auch die Parteien die Freiräume der Bürger
zu sehr eingeengt. Nicht aus eigener Machtvollkommenheit heraus,
sondern auch weil sie sich mit wachsenden Ansprüchen und
Anforderungen seitens der Bürger konfrontiert sahen. Rückzug
der Parteien und Konzentration auf ihre originären Aufgaben
ist damit die überfällige Antwort.
Zu einer
Revitalisierung des Bürgerengagements kann die Medienentwicklung
beitragen. Wir beobachten jedenfalls das Phänomen, daß
die Menschen auf das Leben in der Totalen, das uns die neuen Medien
bieten, mit einer Hinwendung zum Regionalen und Lokalen reagieren.
Dahinter mag man die Gefahr neuer Engstirnigkeit erblicken.
Ich sehe
aber auch die Chance, daß sich die Menschen wieder mehr
um ihr persönliches Umfeld kümmern, statt den Rückzug
ins Private fortzusetzen. Es ist auch eine Chance zu mehr demokratischer
Vitalität von unten. Wir sollten sie nutzen.