Politikfähigkeit medial bestimmter Demokratien


Jürgen Rüttgers

Einführung

Die demokratische Infrastruktur und ihre rechtliche Grundlagen

Der informierte Bürger als Leitbild der Demokratie?


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Einführung

Ich bin sehr gerne der Einladung der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft gefolgt, zu dem Thema "Politikfähigkeit medial bestimmter Demokratien" einige Anmerkungen zu machen. Anmerkungen, weil das Thema in seiner breiten und zentralen Bedeutung für die Entwicklung und Lebenskraft der demokratischen Gesellschaften hier nur ansatzweise angesprochen werden kann.

Mit dem Hörfunk in den dreißiger und dem Fernsehen in den fünfziger Jahren sind neue Massenmedien entstanden, die zwar nicht den vielbeschworenen Abschied vom Gutenberg-Zeitalter gebracht, aber das gesellschaftliche Leben und die Politik erheblich beeinflußt haben.

Der durchschnittliche Medienkonsum eines erwachsenen Bundesbürgers beträgt heute über 5 Stunden täglich, am Wochenende steigert er sich auf 6 bis 7 Stunden. Zwei Drittel dieser Zeit wird den elektronischen Medien gewidmet.Und in Zukunft?

Die Fernsehzuschauer, und dazu zählen wir alle, sind längst zu Gefährten auf dem Weg in die Informationsgesellschaft geworden. Wir stehen am Beginn der nächsten Phase elektronischer Mediennutzung in Form interaktiver, multimedialer Informationstechniken. Fernsehen, Telekommunikation und Computertechnik wachsen zusammen.

Die Einführung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien schreitet stürmisch voran. Kabelrundfunk und Satellitenfernsehen, Multimediatechniken, computergesteuerte Arbeitsabläufe und Maschinen in der Gütererzeugung und bei Dienstleistungen, Personalinformationssysteme, Heimcompter - das sind nur einzelne Elemente einer neuen technischen Entwicklung. Sie erfaßt jetzt schon auch die alltäglichen Lebensbereiche.

Die überragende Bedeutung der Informationstechnik beruht darauf, daß sie Werkzeuge für die Unterstützung intelligenten Handelns und Verhaltens bereitzustellen vermag. Damit wird eine wesentliche menschliche Fähigkeit verstärkt, Information nicht nur zu reflektieren, sondern aktiv zur Gestaltung materieller und immaterieller Güter zu nutzen. Die Systeme, Einrichtungen und Methoden der Informationstechnik haben so die Funktion genereller Leistungsverstärker; sie stellen zunehmend das Gehirn und Nervensystem von Gesellschaft und Wirtschaft dar.

Die Informationsgesellschaft wird die Wirtschafts- und Arbeitswelt verändern. Virtuelle Organisationsformen bilden sich aus, bei denen der genius loci keine Rolle mehr spielt. Es entstehen neue Beschäftigungsfelder, vor allem im Dienstleistungsbereich. Neue Kommunikationsformen, wie Videokonferenzen, ersetzen Geschäftsreisen. Die Trennung von Arbeit, Familie und Freizeit löst sich auf.

Eine ähnliche Schlüsselrolle hat die Informationstechnologie inzwischen für Bildung und Ausbildung. In die Schulen sind der computerunterstützte Unterricht und die Informatik eingezogen. Lebenslanges Lernen wird mit PC, Disketten und Videogeräten zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, auch wenn sich der Lehrbetrieb bisher nur zögernd auf diese neuen Dimensionen einläßt.

Kaum auszumachen sind die kulturellen Wirkungen. Via Internet sind wir omnipräsent, zu jeder Zeit an jedem Ort. Die Welt schrumpft auf Bildschirmformat. Am online geschalteten PC hört man via Internet das Murmeln und Plappern der ganzen Welt. Man ist Weltbürger im heimischen Winkel. Aber - und nicht weniger revolutionär - Bürger in einer virtuellen Welt.

Welche Wirkungen wird diese Entwicklung auf die Demokratie und die politischen Entscheidungsprozesse haben? Welche Spannungsfelder tun sich auf? Welche Risiken bestehen, welche Chancen eröffnen sich?

Ich will an drei Fallbeispielen eine Annäherung an eine Antwort versuchen, die hier nur vorläufig und thesenhaft sein kann. Zuerst mit Blick auf die demokratische Infrastruktur und ihre rechtliche Grundlagen, konkret auf Rundfunk, Kartellrecht und Datenschutz.

Die demokratische Infrastruktur und ihre rechtliche Grundlagen

Die Vermutung, daß die neuen Mediennetzwerke nicht nur der Informationsfreiheit ganz neue Räume erschließen, sondern auch Fallstricke bereithalten, ist nicht abwegig.

Die rechtlichen Voraussetzungen der Informationsgesellschaft sind maßgeblich von Art. 5 GG geprägt, sowohl unter dem Aspekt der Meinungs- und Informationsfreiheit als auch des Medienordnungsrechts, insbesondere des Rundfunk- und Pressebegriffs.

Wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach zum Ausdruck gebracht hat, will Art. 5 des Grundgesetzes den Kommunikationsprozeß insgesamt verfassungsrechtlich schützen und die freie, individuelle und öffentliche Meinungsbildung gewährleisten. Deswegen darf auch die Kommunikationsinfrastruktur nicht unter einseitigen Einfluß Einzelner oder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen geraten.

Daraus ergibt es sich, daß bei Vorliegen einheitlicher Netze für eine Vielzahl von verschiedenen Diensten alle Anbieter und Nutzer zu gleichen Bedingungen Zugang zu den Netzen haben müssen.

Die an alle Anbieter zu stellenden Anforderungen wie auch die objektiven Auswahlkriterien bei Kapazitätsengpässen müssen gesetzlich fixiert werden. Auf der Dienstleistungsebene sind chancengleiche Wettbewerbsbedingungen mit möglichst wenig Regulierungen zu schaffen, um ein möglichst freies Meinungs- und Informationsspektrum zu erreichen.

Praktisch bedeutet das, daß der Informationsverkehr über Datennetze nach den Regeln des Brief- und Telefongeheimnisses unter dem Schutz der grundsetzlich garantierten Meinungsfreiheit steht. Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen werden wegen des Verdachts von kriminellen oder staatsgefährdeten Handlungen oder Verabredungen unter den entsprechenden strengen Auflagen zu handhaben sein, wie sie auch für die Überwachungsmaßnahmen des Brief- oder Telefonverkehrs gelten. Die allgemeine Zensurfreiheit des Brief- und Telefonverkehrs und die Verantwortung des einzelnen Teilnehmers oder Moderators der Internetdienstinhalte, nicht des Netzbetreibers, wird entsprechend anzuwenden sein.

Eine einheitliche Kommunikationsinfrastruktur steht auch dem klassischen Rundfunk als Transportmittel offen und kann diesen durch neue Angebote erweitern, aber auch im Kern verändern. Auch der Presse bieten sich durch elektronisches Publizieren und den Verzicht auf Druckwerke im Sinne des Presserechts neue Möglichkeiten, die breits aktiv genutzt werden.

Aber: Die bisherigen Grenzen zwischen Individual- und Massenkommunikation zwischen Rundfunk und Presse lösen sich auf. Der traditionelle Rundfunkbegriff reicht für die Regelung der vielfältigen neuen Möglichkeiten deshalb nicht mehr aus. So wird vor allem zwischen dem allgemeinen Informationsbegriff und dem individuellen Dienst-Angebot zu unterscheiden sein; Telebanking z.B. ist zweifellos nicht Rundfunk. Andererseits wird es und gibt es Dienste mit massenkommunikativem Charakter, etwa Informationsdienste wie Wettervorhersage oder Fahrplanauskünfte. Sollten solche Dienste dem Rundfunkbegriff zugeordnet werden oder sind sie nicht vielmehr individuell, interaktiv abrufende Individualkommunikation? Eine Neudefinition des Rundfunkbegriffs mit entsprechenden Klarstellungen ist daher dringend geboten:

Angesichts der neuen Möglichkeiten des elektronischen Publizierens muß auch der Pressebegriff überdacht werden, da dieser entscheidend vom Begriff des "Druckwerks", d.h. der physischen Existenz eines Informationsträgers geprägt ist.

Die Regelungen des Wettbewerbsrechts werden im Hinblick auf mögliche Benachteiligung von lokalen und kleinen/mittleren Unternehmen gegenüber großflächig werbenden Kaufhausketten und Versandunternehmen überprüft werden müssen. Das Kartellrecht ist gefordert, neue Regelungen für Presse- und Medienkonzentrationen, aber auch vertikale und horizontale Integration von Mikroelektronik-, Telekommunikations- und Netzeunternehmen zu entwickeln. Dazu finden zur Zeit im Rahmen des vom Bundeskanzler berufenen Technologie- und Innovationsrates intensive Beratungen von Wirtschaftsjuristen statt.

Nicht zuletzt wird an Regelungen zu denken sein, die verhindern, daß es zu neuen Monopolbildungen zwischen Programmanbietern, Netzebetreibern und Endgeräteherstellern kommt, die nicht nur den Wettbewerb in den einzelnen Branchen, sondern insgesamt im Bereich der neuen Informationsangebote zum Erliegen bringen würden.

Sowohl für den Schutz geistigen Eigentums bei der individualisierten Verbreitung über Telekommunikationsnetze wie für den Datenschutz von Anbietern und Nutzern (z.B. Verbot von Aufzeichnungen/Kontrolle über individuelles Nutzerverhalten) sind neue Regelungen erforderlich.

Auch dazu beraten zur Zeit innerhalb des Technologie- und Innovationsrates im Bundeskanzleramt Rechtsexperten, damit die gegenwärtige Rechtsunsicherheit bei der Nutzung geistigen Eigentums im Anschluß an Druckveröffentlichungen zum Beispiel in Form von Disketten oder über Datennetze beendet wird, damit auch in Zukunft beispielsweise der freie Austausch von Forschungsergebnissen und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in allen wissenschaftlichen Zweigen gewährleistet bleibt und nicht aus Sorge vor einer rechtlich nicht geschützten, unbegrenzten Nutzung solcher Ergebnisse Forschungsresultate zurückgehalten oder nur in internen Kreisen verarbeitet werden.

Beispielsweise könnte der Öffentlichkeitsbegriff des Urheberrechtsgesetzes dahin geändert werden, daß eine für mehrere, persönlich nicht verbundene Empfänger bestimmte Übermittlung auch dann öffentlich ist, wenn jeweils nur eine Person (über das Datennetz) erreicht wird und damit der Schutz des Urheberrechts auch für diese Form der Übermittlung gesichert ist.

Schließlich müssen im Interesse des Jugend- und Persönlichkeitsschutzes Regelungen geschaffen werden, die den Mißbrauch z.B. durch politische Extremisten oder Pornographie soweit wie möglich ausschließen. Wenn Rechtsradikale oder Schmuddelproduzenten zu Trittbrettfahrern der multimedialen Entwicklung werden, hört der Spaß auf.

Der informierte Bürger als Leitbild der Demokratie?

Befürwörter des multimedialen Siegeszuges betonen vor allem die Chance, daß der informierte Bürger als Leitbild der Demokratie endlich Wirklichkeit werden könnte.

Mit Hilfe der neuen Medientechniken, globalen Datennetze, E-Mail, Mailboxen, Videokonferenzen und öffentlichen Multimedia-Terminals könnten Informationsprozesse der Bürger und Institutionen unter- und miteinander qualitativ so verbessert und verfeinert werden, daß "Computerdemokratie" als angemessene Antwort auf gegenwertige Politikprobleme, auf Unübersichtlichkeit, Orientierungsschwierigkeit und Komplexitätsbewältigung verstanden werden kann.

In der Tat bieten die elektronischen Massenmedien die Möglichkeit, eine bisher völlig undenkbare Fülle von Informationen zu vermitteln, komplexe Zusammenhänge zu erläutern und den unmittelbaren Kontakt zu den Trägern politischer Verantwortung dauerhaft herzustellen.

Welche Breitenwirkung ein elektronisches Informationsangebot erreichen kann, haben zu meiner eigener Überraschung die Erfahrungten mit den im Internet angebotenen Informationen des BMBF gezeigt: In den ersten beiden Monaten, März und April dieses Jahres wurden über 100.000 Nutzungen registriert - mit immer noch steigender Tendenz!

Zugleich sollten wir uns vor dem Irrtum hüten, die Informationsgesellschaft sei gleichsam automatisch auch eine informierte Gesellschaft aus lauter umfassend informierten Bürgern. Denn Quantität ist nicht gleich Qualität. Wenn sich die Milliardeninvestitionen im Medienbereich allein mit Erlösen aus Video-On-Demand, Telespielen, Pornographie und Pizza-Bestellservice rechnen sollen, wird aus der Informationsflut schnell eine Informationsdürre.

Die Informationsfülle hat auch inflationäre Wirkung. Welche Information hat Wert? Welche ist wertlos?

Die ungeschriebenen Mediengesetze der Aktualität, des Vorrangs des Überraschungs- und Neuigkeitswertes und der Kurzlebigkeit laufen Gefahr, Zusammenhänge zu vernachlässigen und letztlich Verwirrung und Desinteresse zu stiften.

Die Selektionsmechanismen der Medien sind eher "telekratisch" denn demokratisch. Personen, die auf die öffentliche Meinung einwirken wollen, müssen permanent in den Medien präsent und habituell in der Lage sein, ihre Zielsetzungen mediengerecht zu vermitteln - möglichst innerhalb von 15 Sekunden, denn mehr Sendezeit lassen die Nachrichtenredaktionen nicht zu. Politiker ihrerseits laufen Gefahr, den Medien den Schwarzen Peter zuzuschieben, auch wenn sie gleichzeitig versuchen, zum eigenen Ruhm auf der medialen Tastatur kraftvoll aufzuspielen.

Schon das macht, trotz aller berechtigter Kritik im einzelnen, Medienscheite wenig überzeugend. Sinnvoller scheint mir, daß sich die Politik angesichts der feilgebotenen Informationsfülle auf ihre Aufgaben konzentriert auszuwählen, zu gewichten, Gestaltungsoptionen zu offerieren. Oder - wie Roman Herzog schon 1984 formulierte:

"Die Fülle der verfügbaren Daten enthebt die Politik keineswegs der Notwendigkeit, Ziele zu formulieren. Im Gegenteil: die Notwendigkeit stellt sich drängender denn je, da die wirklich relevanten Informationen sich nicht ohne weiteres zu erkennen geben.

Hier muß der Politiker heute ein Gespür für das künftige Gewicht für Informationen beweisen. Er muß erkennen können, was wichtig wird und was nicht. Dabei ist vieles, was er gerne wüßte, gar nicht oder nur unzulänglich in Erfahrung zu bringen. Komplexität und Dynamik unserer Gesellschaft übersteigen die Kapazitäten jedes Beobachtungs- und Prognoseinstrumentariums. Ich fürchte, daß wird immer so bleiben; eigentlich hoffe ich es auch. Deshalb sind klare Gewichtung und Prioritäten um so unerläßlicher."

Ebenfalls von Roman Herzog stammt der Satz: "Die repräsentative Demokratie bekommt in der Informationsgesellschaft Konkurrenz." Hinter diesem Diktum verbirgt sich die Frage, ob die neuen Kommunikationstechnologien nicht auch neue Chancen der politischen Mitwirkung und Beteiligung eröffnen und somit dazu beitragen könnten, den politikverdrossenen Bürger versöhnlich zu stimmen.

Um der Sache auf den Grund zu gehen, ist es vielleicht hilfreich, zwischen Teilnahme und Anteilnahme zu unterscheiden. Die Medienwirkung macht die Anteilnahme der Öffentlichkeit an politischen Konflikten und Umstürzen, an Naturkatastrophen und der Bedrohung der Umwelt, aber auch am sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt, an Entwicklung von Freiheit und Demokratie in großen Teilen der Welt in zunehmendem Maße für alle Menschen möglich.

Aus Anteilnahme kann Mitverantwortung entstehen - viele Beispiele spontaner Hilfsbereitschaft für Menschen in Not, für Menschen unter politischer Unterdrückung und für die gefährdete Natur in allen Teilen der Welt machen dies deutlich; in den letzten Jahren ist durch die Informationstechnik ein neues Verhältnis für globale Verantwortung gewachsen, das nicht zuletzt viele junge Menschen in unserer Gesellschaft zu Initiativen und Engagement geführt hat.

Die Forderung, mehr Teilnahmechancen zu eröffnen, gehört wiederum zum Repertoire der aktuellen Demokratiekritik. Für Brian Beedham, einem der Mitherausgeber des Economist, ist ausgemacht, daß wir mit den gegenwärtigen praktizierten Formen der repräsentativen Demokratie in der Sackgasse festsitzen.

Da sich die alten Unterschiede von Bildung und sozialer Herkunft auflösten, würde es zunehmend schwieriger, Leute davon zu überzeugen, daß sie nur in der Lage seien, alle vier Jahre einen Wahlschein in die Urne zu werfen und daß eine Handvoll Männer und Frauen, die sie damit in das Parlament entsendeten, berechtigt seien, alle anderen Entscheidungen für sie zu treffen. Ist damit der Weg zur direkten elektronischen Demokratie die logische Konsequenz?

Mehr Direktkommunikation, mehr Verständnis durch Information zu übergreifenden Fragestellungen und Zusammenhängen unserer Gesellschaften, mehr Zugang zu ausgewählten Direktinformationen können die Funktion des aktiven Bürgers festigen, der die Grundlage funktionierender demokratischer Systeme bildet. Durch interaktive Fernsehdiskussionen, durch Meinungsforschung in vernetzten PC-Systemen werden völlig neue Formen der unmittelbaren Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern am politischen Meinungsbildungsprozeß geschaffen.

Dennoch: Auch wenn die neuen Medien neue Interaktionsmöglichkeiten zwischen Politik und Bürgerschaft ermöglichen, können und sollten sie nicht das Repräsentationsprinzip ersetzen. Die beabsichtigte "Demokratisierung" durch Mediatisierung würde in ihr Gegenteil umschlagen.

Die Argumente, die für direkt-demokratische Verfahren ins Feld geführt werden, sind nicht überzeugend. Für viele Befürworter stellt erst die plebiszitäre Demokratie die wahre Volksherrschaft dar. Nur sie verhelfen dem Bürger als Souverän zu seinem Recht. Differenzierte Positionen sehen die Chance, den Mitgestaltungswünschen der Bürger stärker zu entsprechen, als dies in der "Zuschauerdemokratie" (Rudolf Wassermann) der Fall sei. Der Bürgerwille käme stärker zum Tragen, die Entfremdung zwischen Politik und Bürgerschaft würde überwunden. Mehr unmittelbare Bürgerbeteiligung und Entscheidungsbefugnis wirke dem Übergewicht der Parteien entgegen und stärke die Bereitschaft zum Bürgerengagement. Sie steigere damit die Lern- und Konsensfähigkeit des politischen Systems insgesamt, mithin die Rationalität demokratischer Herrschaft.

Solche Argumente sind wohlklingend, aber nicht stichhaltig. Zugespitzt formuliert: Der Bürger wird ja nicht dadurch aktiver, daß man ihm seine Zuschauerrolle komfortabler ausgestaltet, also vom Fernsehsessel aus seine Entscheidungsmöglichkeiten per Knopfdruck erhöht.

Plebiszitäre Meinungs- und Willensbildungsformen führen zudem fast zwangsläufig dazu, komplexe Sachverhalte in einfache Ja-Nein-Schemata zu pressen und zu vermeintlich klaren Entscheidungsalternativen zu stilisieren. Der erwartete Rationalitätsgewinn droht eher in einen Verlust umzuschlagen.

Politische Legitimität basiert, wie nicht zuletzt die Vielzahl von Untersuchungen zur Politikverdrossenheit herausgearbeitet haben, vor allem auf der Effektivität politischer Entscheidungsverfahren, insbesondere auch auf der Durchschlagskraft und Verantwortlichkeit der parlamentarischen Arbeit.

Hingegen kommt die Verlagerung von Entscheidungsmacht auf die Träger von Plebisziten einer bewußten Entparlamentarisierung und damit Schwächung der Funktions- und Integrationsfähigkeit des Parlaments gleich. Kreist erst einmal das plebiszitäre Damoklesschwert über den Köpfen der Parlamentarier, dann ist es mit ihrer Entscheidungsfreiheit nicht mehr weit her. Sie aber bildet eine wesentliche Voraussetzung ihrer Verantwortlichkeit, die sich auch gerade dadurch einstellt, daß sie von Dauer ist und sich nicht auf einmalige Entscheidungsmomente beschränkt.

Der Bürger im TED-Verfahren stimmt mit "Ja" oder "Nein", aber seine Entscheidung bleibt auf der Tagesordnung. Jederzeit kann er zur Rede gestellt werden, muß er begründen und belegen. Er muß damit rechnen, immer aufs neue an seine Entscheidung und Ihre Folgen erinnert zu werden. Es ist dieses "Gesetz des Wiedersehens" (Claus Offe), das ihm den Rückzug aus der Verantwortung durch die Hintertür plebiszitärer Entscheidungen versperrt.

Entscheidung und Verantwortung gehören zusammen. Sie wieder stärker zu verzahnen ist eine der Reformaufgaben, die vor uns liegen. ie Forderung nach mehr Entscheidungsbefugnissen der Bürger ist berechtigt. Komplementär dazu müssen aber die Gestaltungsräume, in denen die Bürger eigenverantwortlich handeln, wieder größer werden. Weniger Staat und weniger Politik sind dabei notwendige Konsequenzen.

In der Vergangenheit haben auch die Parteien die Freiräume der Bürger zu sehr eingeengt. Nicht aus eigener Machtvollkommenheit heraus, sondern auch weil sie sich mit wachsenden Ansprüchen und Anforderungen seitens der Bürger konfrontiert sahen. Rückzug der Parteien und Konzentration auf ihre originären Aufgaben ist damit die überfällige Antwort.

Zu einer Revitalisierung des Bürgerengagements kann die Medienentwicklung beitragen. Wir beobachten jedenfalls das Phänomen, daß die Menschen auf das Leben in der Totalen, das uns die neuen Medien bieten, mit einer Hinwendung zum Regionalen und Lokalen reagieren. Dahinter mag man die Gefahr neuer Engstirnigkeit erblicken.

Ich sehe aber auch die Chance, daß sich die Menschen wieder mehr um ihr persönliches Umfeld kümmern, statt den Rückzug ins Private fortzusetzen. Es ist auch eine Chance zu mehr demokratischer Vitalität von unten. Wir sollten sie nutzen.

Stand: Juni 1995


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