- Fast unmerklich ist aus einer dramatischen Pro-Kontra-Debatte eine
undramatische Aufregung über eine kommende Geburtstagsfeier geworden.
Berichte über die gigantischen technischen Vorbereitungen, Gespräche
mit den Tuchherstellern, mit den Logistikern, letzte Hotelreservierungen,
aufgeregtes Schätzen der erwarteten Besucherzahl.
Berlin rüstet sich zu einem Jahrhundertempfang der merkwürdigsten
Art. Eine Idee wird realisiert, die von der Irrealität lebt: Zwanzig Jahre
Energie, ein optisches Phantasieprodukt zu verwirklichen, für wenige Tage.
Dann wird es vom Riesengebäude weggewandert sein in abermillionen
Köpfe. Das Tuch am Reichstag verschwindet, die Bilder im Kopf bleiben.
- Vor zwanzig Jahren stand das Fernsehzeitalter am Anfang. Jetzt kann die
"ganze Welt" (jener diffuse Begriff in unserem Kopf) den verhüllten
Reichstag wahrnehmen. "Die Welt schaut zu". Und wo hatte sie in den letzten
Jahren nicht überall zugeschaut: Beim Fall der Mauer und der Begeisterung
der Berliner, und seither bei all den Kriegen der neunziger Jahre, wo "die Welt
schaut zu" ein makabrer Satz geworden ist. Wir haben Instrumente, massenhaftes
Elend und Leid, Tod und Terror mit unseren Augen, oft "life", also gleichzeitig
wahrzunehmen. Und wir haben keine Instrumente, das, was wir sehen, zu
stoppen.
Niemals zuvor haben Millionen Menschen optisch das Sterben von Tausenden
wahrgenommen, wie dies in den letzten Jahren erlebbar wurde. Die Kameras in
Ruanda, in Bosnien sind die elektronischen Augen der Welt. Bei Vietnam erinnern
wir das Einzelbild: Den Todesschuß auf offener Straße, das rennende
halbnackte Kind, die Häuser von My Lai.
Bei den elektronischen Nachrichten der neunziger Jahre kehrt keine Ruhe ein.
Die Nachrichten überlagern sich, die Bilder werden zum wuchernden
Dschungel in unseren Erinnerungen.
- Gegen die Verhüllung des Reichstages ist mächtig gesprochen und
gekämpft worden, dafür auch. Christos Idee (fast eine Utopie der
Kunst), ein Stück Welt nur für einen Moment zu verhüllen, wird
verspottet vor ihrer Verwirklichung, denn sie wird ja gefeiert in der
Erinnerung, wenn dieses Stück Welt (die Inseln im Süden, die
Brücke Pont Neuf, der Reichstag) längst wieder enthüllt sein
wird. Die rasche Enthüllung ist das Geheimnis dieses Künstlers. Er
hinterläßt keine Spuren in der Wirklichkeit. Bei der politischen
Utopie ist es genau umgekehrt. Da wird ein Ewigkeitsbild der Welt von morgen
entworfen und die Menschen sind verzweifelt, wenn die Realisierung so ganz
anders läuft. Christo verhüllt Stücke einer Welt, die wir
Menschen täglich neu deformieren. Der Reichstag, verhüllt nur
für eine Zeitsekunde der langen Geschichte Mitteleuropas, läßt
innehalten.
- Und genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Das Gebäude, kurz vor dem
Umbau, trägt immer noch einen Rest jener Halbwirklichkeit, in der wir den
Deutschen Bundestag neben der Mauer in Berlin über Jahrzehnte fast
"zelebriert" hatten. Es wird ein heiteres Signal aus Deutschland. Ein Gestus
der Gelassenheit, der der Körpersprache der Deutschen gut tut. Das
heraldische Zeichen des Jahres 1995: Wir sind fähig, uns zu freuen. Wir
können lächeln, und wir können mit der Idee eines einzelnen,
eines Künstlers, souverän umgehen.
Natürlich gibt es Argumente dagegen - lose Steine auf dem
Straßen-Schotter der Vergangenheit; wer will, kann damit werfen. Die
Gedanken und Bilder, die dafür sprechen, sind Kulturmaterialien auf dem
Bürgersteig der Zukunft. Wer kann, kann damit bauen. Wir sollten das
können.