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Virtuelles Parlament
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Jürgen Schmädeke

Der Reichstag im Spiegel der deutschen Geschichte

Um 1958, Wiederaufbauarbeiten
© Ullstein Bilderdienst

3. Erster Weltkrieg: Vom "Burgfrieden" zum Ende der Monarchie

In solchen Debatten wurden auch internationale Spannungen sichtbar, die schließlich in den vom sozialdemokratischen Partei- und Fraktionsvorsitzenden August Bebel schon 1911 beschworenen "großen Kladderadatsch" des am 1. August 1914 beginnenden Ersten Weltkrieges mündeten.

Der vom Kaiser mit den Worten: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche" den Abgeordneten verkündete innenpolitische "Burgfrieden" wurde zunächst auch von der SPD akzeptiert. Ende 1916 durfte sogar die schon in Wallots Plänen vorgesehene, vom Kaiser bisher abgelehnte Inschrift "Dem Deutschen Volke" über dem Hauptportal des Reichstags angebracht werden. Als aber der erhoffte schnelle Sieg ausblieb, wurde der "Burgfrieden" zunehmend zur Illusion. Zu sehr kontrastierten die wenig heroische Kriegsrealität und zunehmende Ernährungsprobleme mit immer maßloser werdenden "Kriegsziel"-Forderungen. Fast wie Diktatoren bestimmten die höchsten Militärs auch die Innenpolitik. Erst als sie Ende September 1918 die sichere Niederlage vor Augen sahen, verlangten sie plötzlich, um die siegreichen und parlamentarisch regierten Kriegsgegner günstig zu stimmen, die im Parlament schon lange vergeblich geforderten Reformen.

Das Gesetz vom 28. Oktober 1918 machte das Reich endlich zur parlamentarischen Monarchie. Der Kanzler sollte vom Vertrauen des Reichstags abhängig sein. Doch nun war es, wie der Zentrums-Abgeordnete Matthias Erzberger schon 1917 befürchtet hatte, für einen friedlichen Wandel zu spät. Die Revolution, die am 9. November 1918 Berlin erreichte, brachte einen grundsätzlichen Umschwung. Der Kaiser wurde zur Abdankung gezwungen. Von einem Fenster des Reichstagsgebäudes aus rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Republik aus.

4. Parlamentarische Demokratie zwischen politischen Extremen

Die am 19. Januar 1919 gewählte Verfassunggebende Nationalversammlung trat angesichts der revolutionären Wirren nicht in Berlin, sondern in Weimar zusammen, was der neuen parlamentarischen Demokratie die inoffizielle Bezeichnung "Weimarer Republik" einbrachte. Das neue Parlament war erstmals auch von den Frauen mitgewählt, nach dem Verhältniswahlrecht, das jeder Stimme das gleiche Gewicht gab, und beschloß eine Verfassung, die das Reich zur parlamentarischen Demokratie machte, mit einer Regierung, die vom Vertrauen des Parlaments abhing. Erst nach der Annahme der Reichsverfassung

kehrten die Abgeordneten in der zweiten Jahreshälfte ins inzwischen wiederhergerichtete Reichstagsgebäude zurück. Aber die Zeiten blieben unruhig.

Als 1920 Neuwahlen stattfanden, endeten sie mit einem für die junge Republik niederschmetternden Ergebnis: SPD, Zentrum und die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP), die für die Demokratie und Republik eintraten und in der Nationalversammlung eine Dreiviertelmehrheit gehabt hatten, schmolzen im Reichstag auf insgesamt 44 Prozent und bis Ende 1932 sogar weiter auf 33 Prozent zusammen, die allein nicht regieren konnten. Bald sprach man übertreibend von der "Republik ohne Republikaner". Wechselnde Mehrheiten, die teils von der SPD bis zur rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) Stresemanns, teils von der DDP bis zur konservativ-nationalistischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) reichten, führten immer wieder zu Kanzlerstürzen durch den Reichstag und zu Regierungsumbildungen.

Außerhalb der politischen Verantwortung, aber umso maßloser in ihren auch im Reichstag oft lautstark vertretenen Forderungen, blieben die politischen Extreme: rechts die Nationalsozialisten und ihre "völkischen" Vorläufer, links die Kommunisten.

Auch nach der Wahl von 1920 regierten im Reichstag allzu oft die Leidenschaften und provozierten heftige Debatten, die durch den Streit um die Schuld am Kriegsausbruch, an der Niederlage und der Revolution verschärft wurden. Vor einem Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung hatte Generalfeldmarschall von Hindenburg schon im November 1919 der "Dolchstoßlegende" zum Leben verholfen: Die Revolution habe die deutsche Front "von hinten erdolcht". 1922 löste die Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau durch Rechtsextremisten im Reichstag erregte Szenen aus. Ein "Gesetz zum Schutze der Republik" wurde bald darauf mit breiter, verfassungsändernder Mehrheit beschlossen. Es konnte nicht verhindern, daß als Opfer einer von rechts inszenierten Verleumdungskampagne, die ihn körperlich zermürbte, auch Friedrich Ebert starb, der sozialdemokratische erste Reichspräsident der Republik. Hindenburg wurde sein Nachfolger.

Im März 1930 zerbrach die letzte der zahlreichen, immer wieder mühselig gebildeten, kurzlebigen parlamentarischen Koalitionen, als sich DVP und SPD, inmitten der sich verschärfenden Wirtschaftskrise, nicht über die Erhöhung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung um ein halbes Prozent einigen konnten.

Danach begann mit dem Reichskanzler Heinrich Brüning die Ära der "Präsidialkabinette", die, anstelle parlamentarischer Gesetzgebung, mit "Notverordnungen" des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Verfassung regierten. Doch der Reichstag konnte Notverordnungen außer Kraft setzen und tat dies bald darauf mit der "negativen", zu keiner konstruktiven Politik fähigen Mehrheit von SPD, KPD, DNVP und NSDAP. Die nach der sofortigen Parlamentsauflösung am 14. September 1930 abgehaltene Neuwahl brachte einen Schock. Eine von 12 auf 107 Abgeordnete angewachsene NSDAP-Fraktion marschierte in Parteiuniformen in den Plenarsaal; seitdem ging fast jede der nur noch selten angesetzten Reichstagssitzungen in Tumulten unter. Auch die SPD wagte nicht mehr, gegen Notverordnungen zu stimmen.

So half man sich über die nächsten zwei Jahre. Dann war das Spiel für die parlamentarische Demokratie vollends verloren. Als Hindenburg, gerade als Reichspräsident wiedergewählt, Brüning entlassen hatte, löste sein Nachfolger Franz von Papen ohne Not den Reichstag auf. Die Neuwahl vom 31. Juli 1932 brachte 230 Nationalsozialisten und 89 Kommunisten ins Parlament. Das war eine negative Mehrheit der Extremisten, die jede Notverordnung aufheben konnte. Nach erneuten Wahlen Anfang November 1932 saßen 34 Nationalsozialisten weniger und elf Kommunisten mehr im Reichstag; aber die negative Mehrheit blieb.

5. Reichstagsbrand - Diktatur - Verfolgung

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt und der Reichstag erneut aufgelöst. Neuwahlen wurden auf den 5. März 1933 festgesetzt.

Sechs Tage vor diesem Wahltermin, am Abend des 27. Februar, schlugen die Flammen des Reichstagsbrandes aus der hohen Kuppel des Wallot-Baues. Wer die Brandstifter waren, ist bis heute heftig umstritten. Die erst jetzt der historischen Forschung zugänglichen Akten des Reichstagsbrandprozesses enthalten ebenso wie die Rekonstruktionen und Analysen der Brandexperten und weitere Dokumente und Zeugenaussagen eine Fülle von Material dafür, daß die Nazis selbst die Täter waren. Die Behauptung, solche Dokumente seien erst nach dem Kriege systematisch gefälscht worden, hält wissenschaftlicher und kriminologischer Überprüfung nicht stand. Die Gegenthese besagt, der holländische Rätekommunist Marinus van der Lubbe, der im Reichstag gefaßt wurde, sei der alleinige Täter aus politischem Protest gewesen. Eine ihrer Hauptstützen sind Aussagen von Angehörigen der Polizei und Gestapo nach 1945. Doch bestätigen die nun zugänglichen Akten, daß gerade diese allen Anlaß hatten, ihre Rolle bei der Manipulation der Ermittlungen seit den ersten Vernehmungen van der Lubbes und des Prozesses bis hin zur Ermordung unliebsamer Zeugen zu verschleiern.

Hitler seinerseits hatte sofort die Kommunisten beschuldigt; doch das Reichsgericht verurteilte Ende 1933 allein van der Lubbe zum Tode und mußte die mitangeklagten, in Berlin verhafteten Komintern-Funktionäre Dimitroff, Popoff und Taneff ebenso wie den KPD-Fraktionsvorsitzenden Torgler mangels jeden haltbaren Beweises freisprechen. Als "unter seiner Würde" aber bezeichnete es das Gericht in seinem Urteil, auf die "niedrigen Verdächtigungen" einzugehen, die Nazis selber hätten den Brand inszeniert; denn die "gesinnungsmäßigen Hemmungen" dieser Partei schlössen derartige verbrecherische Handlungen "von vornherein" aus...

Nutznießer waren auf jeden Fall allein die Nationalsozialisten. Hitler nahm den Brand zum Anlaß, um mit einer Notverordnung die verfassungsmäßigen Grundrechte aufzuheben. Der "legale" Terror machte seine Herrschaft unabhängig vom Ausgang der Wahl am 5. März, denn ohnehin dachte er nicht an eine Rückkehr zur parlamentarischen Mehrheitsregierung, die mit einer Koalition von NSDAP (43,9% der Stimmen) und Deutschnationalen (8,0%) theoretisch möglich gewesen wäre. Nach der Reichstagseröffnung in der Potsdamer Garnisonkirche erzwang Hitler zwei Tage darauf vom Reichstag die Annahme der "Ermächtigungsgesetze". Tagungsort war an diesem 23. März 1933 die Kroll-Oper, gegenüber dem Reichstag auf der Westseite des Platzes der Republik gelegen. Nur 94 der 120 SPD-Abgeordneten, die noch nicht - wie die der KPD - verhaftet worden oder geflohen waren, wagten nach einer eindrucksvollen Rede ihres Fraktionsvorsitzenden Otto Wels mit "Nein" zu stimmen.

Damit war der Reichstag vom demokratischen Parlament endgültig zum Akklamationsorgan der Diktatur geworden. Von den Abgeordneten der Jahre zwischen 1919 und 1933 kamen rund 200 für längere oder kürzere Zeit in Gefängnisse und Konzentrationslager, mindestens 73 sind im deutschen Herrschafsbereich - in der Haft umgekommen, sechs begingen Selbstmord, über 100 emigrierten, vier von ihnen überlebten die "Säuberungen" in der Sowjetunion nicht. Mindestens 13 starben noch nach dem 8. Mai 1945 an Haftfolgen, rund 30 gehörten schließlich noch dem Deutschen Bundestag an, als letzter von ihnen starb 1970 Ernst Lemmer.

6. Vom Symbol der Hoffnung zur neuen deutschen Einheit

Am Ende des verlorenen Zweiten Weltkriegs, als Anfang Mai 1945 die Waffen schwiegen, war der inmitten einer Trümmerwüste noch immer monumental wirkende Bau durch Bombentreffer, vor allem aber durch den Artillerie- und Flammenwerfer-Einsatz bei der Eroberung Berlins durch die Rote Armee zur zerschossenen und ausgebrannten Ruine geworden. Den Sowjets galt sie als Symbol ihres Sieges über Hitler, die Rote Fahne über dem Reichstag wurde zum Siegeszeichen. Doch mit dem bald einsetzenden Kalten Krieg gewann auch der Reichstag eine neue Bedeutung: Am 9. September 1948, nach dem Beginn der Blockade Berlins durch die Sowjets, hielt Ernst Reuter auf dem Platz der Republik vor 300.000 Berlinern seine berühmte Rede: "Ihr Völker der Welt...! Schaut auf diese Stadt...!" Viele Jahre blieb der Platz vor dem Reichstag das Forum für die Freiheitskundgebungen der Berliner am 1. Mai.

Seit 1950, bald nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR, wurde intensiv über das Für und Wider von Wiederaufbau oder Abriß diskutiert. Der schließlich beschlossene Wiederaufbau hat die Extreme dieser Debatten, museale Restauration oder moderner Neubau, zu verbinden versucht. Die alte Fassade wurde restauriert, aber wie die Kuppel verschwand auch der einst reiche ornamentale Zierat bis auf wenige Ausnahmen. Hinter dieser Fassade aber entstand ein modernes, lichtdurchflutetes Parlamentshaus. Seine Architektur sollte auch die Transparenz des parlamentarischen Geschehens symbolisieren, und ausdrücklich sollte dieser Neubau in der historischen Hülle für ein gesamtdeutsches Parlament nach dem erhofften Tag der Wiedervereinigung bereitstehen. Bis dahin stand der Bau für Berliner Tagungen der Bundestagsfraktionen und -ausschüsse - und später auch für europäische Gremien und repräsentative Veranstaltungen - zur Verfügung und symbolisierte so auch die "offene deutsche Frage". Plenarsitzungen des Bundestags in Berlin hat es vor 1990 nur viermal zwischen 1955 und 1968, unter zunehmenden sowjetischen Protesten und Störaktionen, gegeben, aber nicht im Reichstag; bald nach der Fertigstellung des Plenarsaales im Jahre 1969 untersagte sie das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin von 1971, das aber weiterhin Fraktions- und Ausschußsitzungen erlaubte.

Die weitläufigen Repräsentationsräume des Westflügels vor dem Plenarsaal dienten seit 1971 der Erinnerung an die freiheitlichen Traditionen der deutschen Geschichte: Sie wurden Bestandteile der Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte". Über zehn Millionen Besucher sind bis zu ihrer Schließung 1994 durch diese Ausstellung gegangen. Erst einen Tag nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 trat der Bundestag erstmals im Reichstag als gesamtdeutsches Parlament zusammen; doch auch in den langen Jahren davor war der Reichstag weder funktionslos geblieben noch zum reinen Museum geworden. So hatte die wiederhergestellte Inschrift "Dem deutschen Volke" über dem Westportal ihren Sinn auch in den Jahren der Teilung nicht verloren. Seit sich am 9. November 1989 unerwartet die Grenze öffnete, steht der Reichstag als künftiges Haus des gesamtdeutschen Bundestags und nunmehr als ein Symbol der wiedergewonnenen Einheit erneut in der Mitte Berlins.


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