1. Hochschulen und Öffentlichkeit
1.1 Die öffentliche Meinung: kritische Grundstimmung
Den Hochschulen weht in der öffentlichen Meinung der Wind
zunehmend ins Gesicht. Berichte und Kommentare in den
überregionalen Medien über Hochschulthemen sind meist durch
einen kritischen Unterton geprägt, Politiker halten mit ihrer
tendenziell negativen Ansicht über die Verhältnisse an den
Hochschulen nicht hinterm Berg, und auch von Repräsentanten der
Spitzenverbände der Wirtschaft hört man überwiegend ablehnende
Kommentare. Gewisse Differenzierungen in diesem Konzert sind
zwar unverkennbar. So erfahren die Fachhochschulen in den
Kommentaren meist weniger negative Beurteilungen als die
Universitäten; teilweise werden sie den Universitäten sogar als
Muster vorgehalten. Auch bezieht sich die verbreitete Kritik an
"den" Hochschulen typischerweise nicht auf die Universität vor
Ort. Diese erfreut sich im Gegenteil meist positiver Resonanz,
wenn sie nicht gerade in einer alten Universitätsstadt ansässig
ist und deshalb zum selbstverständlichen Inventar rechnet. An
der geschilderten Grundtendenz vermögen diese Nuancen jedoch
nichts wesentliches zu ändern.
Beim Versuch, die Ursachen der Kritik zu analysieren,
stößt man auf verbreitete Stereotype und Schlagworte; sie haben
sich offenbar in den Köpfen festgesetzt und kehren unabhängig
von den sich wandelnden Verhältnissen an den Hochschulen
regelmäßig in der Diskussion wieder. Dazu gehört die beliebte
Kritik an den überlangen Studienzeiten ebenso wie der immer
wieder zu hörende Hinweis auf die Reformunfähigkeit der
Hochschulen. Den Professoren wird vorgehalten, sich unter
Vernachlässigung der Lehre nur oder in erster Linie ihren
Forschungsinteressen zu widmen. Aber auch die Forschung stößt
auf Kritik, da sie nicht hinreichend zum Technologietransfer
als "Bringschuld" der Hochschulen beitrage. Neuerdings gesellt
sich zu diesen Schlagworten sogar die These, die Hochschulen
seien zu teuer und kaum noch zu finanzieren, obwohl bekannt
sein dürfte, daß die Überlast fortbesteht und die
Finanzausstattung der Hochschulen im wesentlichen auf dem
Niveau der 70er Jahre eingefroren ist. Daß es in einem solchen
Meinungsklima besonders schwierig, wenn nicht unmöglich ist,
Haushaltspolitiker davon zu überzeugen, daß die Hochschuletats
wenn schon nicht aufgestockt, so doch von Kürzungen verschont
werden müssen, dürfte offensichtlich sein.
1.2 Zur Berechtigung der Kritik
Aus der Innensicht der Hochschulen fällt es schwer, für
die negative Grundstimmung der öffentlichen Meinung und die
verbreitet vorgetragenen Kritikpunkte Verständnis aufzubringen.
Der Eindruck liegt nahe, daß bei den Kritikern die Pflege
liebgewordener Vorurteile vorherrscht, während die
Bereitschaft, von dem tatsächlichen Geschehen in den
Hochschulen Kenntnis zu nehmen, wenig ausgeprägt ist.
Symptomatisch dafür ist ein FAZ-Leitartikel vom März 1995, in
dem unter dem Titel "Es leben die Studenten" eine Meldung des
Wissenschaftsrats über die Studienzeitentwicklung in den Jahren
1986 bis 1991(!) zum Anlaß genommen wird, erneut die angeblich
unhaltbare Situation bei den Studienzeiten zu kommentieren,
ohne daß auch nur mit einem Wort auf die mehrere Jahre
zurückliegende Referenzperiode eingegangen wird. Auch davon,
daß inzwischen, etwa mit Hilfe des "Freischusses" in der
Juristenausbildung (vgl. dazu unter
B I 4), eindrucksvolle
Fortschritte erzielt worden sind, erfährt man nichts, obwohl
gerade diese sehr zu begrüßenden, anreizbedingten Fortschritte
die Unrichtigkeit der verbreiteten Ansicht belegen, es seien in
erster Linie die Studienbedingungen an den Universitäten, die
einem schnelleren Abschluß entgegenstehen. Auch die Aussage
über die Reformunfähigkeit der Universitäten würde sich selbst
widerlegen, wenn die Kritiker sich etwa der Mühe unterziehen
würden, das Universitätsgeschehen in Lehre und Forschung mit
den Verhältnissen vor zehn oder gar zwanzig Jahren zu
vergleichen oder auch nur die regelmäßig wiederkehrenden
Tagesordnungspunkte auf Fakultäts- und Senatssitzungen über die
Reform von Studien- und Prüfungsordnungen zur Kenntnis zu
nehmen. Richtig ist, daß es abrupte Änderungen der Verhältnisse
an den Hochschulen seit dem Umbruch Ende der 60er Jahre nicht
gegeben hat und möglichst auch nicht wieder geben sollte.
Jedoch wäre es zumindest vorschnell, daraus auf generelle
Reformunfähigkeit schließen zu wollen.
Überraschend an der negativen Grundstimmung der
öffentlichen Meinung und mit ihr nicht ohne weiteres vereinbar
ist auch, daß die Hochschulen gleichwohl immer größeren Zulauf
haben und daß ihre unentbehrliche Funktion für qualifizierte
Berufsausbildung und Spitzenforschung außer Zweifel steht. Wenn
inzwischen bereits 40% eines Jahrgangs die
Hochschulzugangsberechtigung erwerben und nicht weniger als 30-
35% von ihr Gebrauch machen, sollte das von der Öffentlichkeit
ebenso als deutliches Signal zur Kenntnis genommen werden wie
der Umstand, daß die Hochschulen alle Anstrengungen unternommen
haben, mit der in den letzten 20 Jahren eingetretenen
Verdoppelung ihrer Studierendenzahlen ohne ins Gewicht fallende
Ausweitung ihrer Kapazitäten, aber auch ohne spürbare
Verschlechterung des Ausbildungsniveaus fertig zu werden. Auch
im internationalen Vergleich rangieren die Absolventen
deutscher Universitäten nach wie vor in der Spitzengruppe und
sind - trotz ihres relativ höheren Alters - bei ausländischen
Universitäten und sonstigen Forschungseinrichtungen, aber auch
bei Unternehmen u.a. von großem Interesse. Schließlich
bestätigt auch der hohe Anteil ausländischer Studierender in
Deutschland die Qualität der deutschen Universitäten.
Entsprechendes läßt sich auch für die deutsche
Universitätsforschung feststellen. Auch sie kann - von
möglichen fachspezifischen Besonderheiten abgesehen - nicht nur
national, sondern auch international mithalten und ist in nicht
wenigen Bereichen in der Spitzengruppe zu finden. Das bestätigt
neben dem Zitatenindex als anerkanntem Qualitätsmaßstab in
Naturwissenschaften und Medizin auch die große Zahl
ausländischer Gastwissenschaftler aus den USA, Japan und
anderen in der Forschung führenden wesentlichen Ländern, die
jährlich nach Deutschland kommen. Und selbst gegenüber der
Kritik am unzureichenden Technologietransfer lohnt es, den
Ursachen genauer nachzugehen: Sie liegen mindestens so sehr an
der Zurückhaltung der Unternehmen gegenüber fremden
Forschungsergebnissen ("not invented here") und an der
fortbestehenden Reserve der Öffentlichkeit gegenüber zentralen
modernen Forschungsfeldern wie an der für ein
Hochtechnologieland wie Deutschland unverzichtbaren
Grundlagenorientierung der Universitätsforschung. Im übrigen
zeigt der von Jahr zu Jahr zunehmende, überwiegend auf
angewandte Forschung entfallende Anteil der sog.
Drittmittelfinanzierung an den Gesamteinnahmen der Hochschulen,
daß die Universitätsforschung längst den Elfenbeinturm
verlassen hat.
1.3 Was zu tun ist
Die vorstehend nur kurz beleuchtete Diskrepanz zwischen
Wirklichkeit der Hochschulen und öffentlicher Meinung zeigt,
daß in hohem Umfang Aufklärungsbedarf besteht und die
Hochschulen sich noch mehr als bisher darum bemühen sollten,
das Ihre dazu beizutragen. Dabei genügt es nicht, von Zeit zu
Zeit eine große Aktion zu veranstalten wie die von
Hochschulrektorenkonferenz und Deutscher Forschungsgemeinschaft
im Juni 1994 initiierten "Tage der Forschung". Obwohl sich an
dieser Initiative die große Mehrzahl der deutschen
Universitäten und sonstigen Forschungseinrichtungen beteiligte,
war die Resonanz in den Medien und in der öffentlichen Meinung
doch bedauerlich gering. Offenbar muß gleichzeitig oder besser
vorab der Boden für eine stärkere Aufnahmebereitschaft der
Öffentlichkeit gegenüber Universitätsinformationen auf andere
Weise bereitet werden. Das erfordert eine Verstärkung der
Öffentlichkeitsarbeit der Hochschulen; auch sollte diese sich
nicht auf die Medien beschränken, sondern sollte alle
erreichbaren Ebenen einbeziehen, darunter vor allem verstärkte
Kontakte zur Politik, aber auch zur Wirtschaft und Verwaltung,
selbst wenn in dort teilweise besonders schwer zu fallen
scheint, festgefahrene Vorstellungen aufzulockern und
Bereitschaft zum offenen Dialog und zur unvoreingenommenen
Betrachtung zu erzielen.
1.4 Der Beitrag der Hochschulmitglieder
Die Aufforderung zu verstärkter Öffentlichkeitsarbeit
richtet sich nicht nur an die Universitätsleitungen und die
Spitzenverbände der Hochschulen, auch wenn sie hierzu in erster
Linie berufen sein mögen. Vielmehr sollten gerade auch die
Beiträge der einzelnen Hochschulmitglieder zu diesem Dialog
nicht unterschätzt werden. Leider sprechen in der Tat gute
Gründe dafür, daß es nicht zuletzt die zahlreichen Äußerungen
von mit der Überlast konfrontierten Hochschullehrern über die
angeblich unhaltbaren Zustände an den Hochschulen waren, die
wesentlich zu deren negativem Meinungsbild in der
Öffentlichkeit beigetragen haben; auch die bestenfalls
unbedachte, in ihren Auswirkungen verheerende Äußerung des
führenden Repräsentanten einer Wissenschaftsorganisation über
die "verrotteten" Universitäten ist noch unvergessen.
Hier tut - schon im eigenen Interesse der Beteiligten -
Gegensteuern dringend not. So unverzichtbar es angesichts
vorgegebener Rahmenbedingungen ist, den veränderten
Verhältnissen im Universitätsgeschehen durch geeignete Reformen
Rechnung zu tragen (und so sehr sich die Universität und ihre
Gliederungen darum bemühen, wie andere Teile dieses Berichts
deutlich machen werden), bedarf es doch auch der offensiven
Vertretung dieser Veränderungen nach außen einschließlich der
Bereitschaft der Hochschulmitglieder, sich hinter die eigene
Hochschule zu stellen, wenn nicht mit ihr zu identifizieren.
Freilich scheint dem das Ergebnis einer kürzlichen
repräsentativen Umfrage unter rd. 700 Hochschullehrern
entgegenzustehen: Ihr ist zu entnehmen, daß die deutschen
Hochschullehrer sich im Unterschied zu ihren ausländischen
Kollegen zwar mit ihrer wissenschaftlichen Fachrichtung
verbunden fühlen, nicht aber mit ihrer jeweiligen Hochschule.
Trifft dieser Befund zu, so ist auch das ein alarmierendes,
wohl nicht zuletzt auf die Umwälzungen Ende der 60er Jahre
zurückzuführendes Zeichen, das sich nur schwer mit der Idee der
Universität als sich selbst verwaltender Körperschaft
Gleichgesinnter und Gleichgestellter in Übereinstimmung bringen
läßt. Da dieselbe Umfrage erkennen läßt, daß die
Hochschullehrer trotz ihrer weit überdurchschnittlichen
Arbeits- und Zeitbelastung mit ihrer Berufssituation zufrieden
sind und da diese Situation nicht ohne das universitäre Umfeld
denkbar ist, sollte es den Hochschullehrern nicht zu schwer
fallen, bestehende Vorbehalte zu überwinden und sich stärker,
als es dem hergebrachten Berufsbild des Hochschullehrers
entspricht, in den Dienst der gemeinsamen Sache zu stellen.