Digest: Moderne Chemie

Im Jahre 1993 erzielte die deutsche chemische Industrie einen Umsatz von 163,1 Milliarden DM und belegte damit den vierten Rang im verarbeitenden Gewerbe, zu dessen Gesamtumsatz sie 10,1 Prozent beitrug. Zugleich war sie mit 609000 Beschäftigten der viertgrößte Arbeitgeber in diesem Bereich. Ungeachtet dieser wirtschaftlichen Bedeutung hat die Chemie jedoch ein denkbar schlechtes Image, ja ist bei vielen zum Inbegriff des Naturwidrigen, Giftigen und Umweltschädlichen schlechthin geworden.

Tatsächlich hat die chemische Industrie in einer Zeit, als das allgemeine ökologische Bewußtsein noch wenig entwickelt war, recht ungeniert ihre Abfallprodukte in Gewässer und Atmosphäre entsorgt und sich später unter dem Druck der Öffentlichkeit zunächst nur zögernd zu mehr Rücksicht auf die Umwelt bequemt. Inzwischen aber nimmt sie den Umweltschutz sehr ernst und ist peinlich bemüht, negative Schlagzeilen zu vermeiden.

Dementsprechend ist eine der wesentlichen Leitlinien der modernen industriellen Chemie, die sich auch in diesem Heft deutlich abzeichnet, das Bestreben, Substanzen unter milderen Bedingungen, auf direkterem Wege und mit weniger Neben- oder Abfallprodukten - mit einem Wort: umweltfreundlicher - herzustellen. Große Bedeutung haben dabei Katalysatoren, die Umsetzungen selektiv beschleunigen und Reaktionen in eine gewünschte Richtung lenken. Ihre Erforschung und das Verständnis ihrer Wirkungsweise sind in jüngster Zeit einen großen Schritt vorangekommen.

Ein generelles Problem der Chemie im Verhältnis zur Gesellschaft ist, daß sie in einem enormen Fundus an Spezialwissen besteht - zum Beispiel über Herstellung, Struktur, Eigenschaften und Reaktionsweisen der gut 15 Millionen bisher synthetisierten Verbindungen -, der zum allergrößten Teil einem Laien nicht vermittelbar ist. Deshalb kann es auch in diesem Heft nur darum gehen, grundlegende Konzepte darzustellen, welche die Entwicklung der Chemie in den letzten Jahrzehnten geprägt haben. Diese neuen Ansätze wurden vielfach von Errungenschaften in anderen Bereichen von Naturwissenschaft und Technik befruchtet oder ermöglicht. So erlaubte erst die Realisierung extrem kurzer Laserblitze, zumindest für einige sehr einfache Reaktionen bis ins Detail zu ermitteln, wie sie in der unvorstellbar kurzen Zeit von wenigen Millionsteln einer milliardstel Sekunde auf atomarer Ebene ablaufen.

In seinem einführenden Beitrag illustriert der Nobelpreisträger Roald Hoffmann die Spannweite der modernen Chemie anhand zweier kürzlich synthetisierter Verbindungen, die in vieler Hinsicht Gegenpole dieser Wissenschaft markieren: Die eine rettet Leben, leitet sich von einem Naturstoff ab und wird in einem komplizierten Verfahren in 21 Schritten synthetisch hergestellt; die andere ist von rein ästhetischem Reiz, hat kein natürliches Pendant und bildet sich in einem einzigen Schritt gleichsam durch Selbstorganisation der Atome. In diesem Zwischenbereich zwischen unmittelbarer Anwendbarkeit und reiner Grundlagenforschung, Naturnähe und absoluter Künstlichkeit, akribischer Syntheseplanung und spielerischer Intuition liegt das faszinierende Betätigungsfeld der heutigen Chemie.


Inhaltsverzeichnis

Die Chemie zwischen Natur und Ideal

Von Roald Hoffmann; Seite 8

Chemiker können in der Natur vorkommende Moleküle künstlich herstellen oder nie dagewesene Strukturen erschaffen, deren einziger Wert ihr ästhetischer Reiz ist. Worin sollten sie ihr höchstes Ziel sehen?

Der Augenblick der Molekülbildung

Von Ahmed H. Zewail; Seite 18

In weniger als einer billionstel Sekunde können Atome zusammenstoßen, miteinander wechselwirken und sich zu neuen Molekülen verbinden. Mit Molekular- und Laserstrahlen lassen sich derart schnelle Vorgänge nun direkt beobachten.

Nobelpreis für Chemie 1986:
Untersuchung von Elementarreaktionen
Von Wolfhard Seidel; Seite 27

Oszillierende chemische Reaktionen

Von Irving R. Epstein, Kenneth Kustin, Patrick De Kepper und Mikl¢s Orb n; Seite 28

Unmöglich, hieß es einst: im Widerspruch zu den Naturgesetzen. Heute aber werden chemische Reaktionen, bei denen die Konzentrationen maßgeblicher Reaktionspartner periodisch steigen und fallen, gezielt entworfen. Mit ihrer Hilfe hofft man, etwa das Geheimnis der biologischen Uhr zu ergründen.

Katalyse an Oberflächen

Von Cynthia M. Friend; Seite 38

Chemiker können die Wechselwirkung zwischen einzelnen Molekülen und Feststoffen, die als Katalysatoren Reaktionen dieser Moleküle beschleunigen, heute direkt beobachten. Neue Erkenntnisse über die Wirkungsweise von Katalysatoren sind auf vielen Gebieten von Nutzen - von der großtechnischen Synthese bis hin zum Umweltschutz.

Festkörpersäuren als Katalysatoren

Von Sir John Meurig Thomas; Seite 44

In zunehmendem Maße können statt ätzender und gefährlicher flüssiger Säuren neu entwickelte saure Feststoffe dazu dienen, großtechnische chemische Prozesse spezifisch zu beschleunigen. Vielfach verringert sich dadurch auch der Ausstoß umweltschädlicher Substanzen.

Steuerung chemischer Reaktionen mit Lasern

Von Paul Brumer und Moshe Shapiro; Seite 52

Hoffnungen, durch gezielte Anregung von Bindungen mit Laserstrahlung chemische Umsetzungen in eine bestimmte Richtung lenken zu können, haben sich nur sehr bedingt erfüllt. Mehr Erfolg versprechen neue Verfahren, die auch die Phaseninformation im Laserstrahl nutzen.

Molekülkristalle nach Maß

Von Paul J. Fagan und Michael D. Ward; Seite 58

Mit gezielt ausgewählten Molekülen lassen sich Kristalle neuartiger Substanzen züchten. Durch Steuerung dieses Prozesses versucht man nun, Materialien mit vorher bestimmbaren mechanischen, elektrischen, magnetischen und optischen Eigenschaften zu gewinnen.

Molekül-Topologie und chemische Eigenschaften

Von Dennis H. Rouvray; Seite 66

Mathematische Verfahren ermöglichen es, die Eigenschaften von Molekülen aus der Anordnung ihrer Atome abzuleiten. Dies ist für die Suche nach neuen Arzneimitteln ebenso bedeutsam wie für die Beurteilung der Gefährlichkeit krebserregender Substanzen.

Fullerene

Von Robert F. Curl und Richard E. Smalley; Seite 74

Erst jüngst wurde entdeckt, daß Kohlenstoff im festen Zustand außer als Diamant und Graphit auch in Form käfigartiger Moleküle vorliegen kann. Bei dem aus 60 Atomen bestehenden Urtypus dieser Fullerene handelt es sich wahrscheinlich um das rundeste Molekül, das überhaupt möglich ist.

Hochentwickelte Polymere

Von Eric Baer; Seite 85

Polymere lassen sich durch die gezielte Wahl ihrer Grundbausteine und mittels raffinierter Verarbeitungsmethoden für die verschiedensten Zwecke maßschneidern. Von Gläsern über stahlharte Fasern bis zu elektrisch leitenden Materialien reicht die Palette moderner Kunststoffe.

Dendrimere - neue Sterne am Himmel der Chemie?
Von Jörg Breitenbach; Seite 96

Elektrisch leitende Kunststoffe

Von Richard B. Kaner und Alan G. MacDiarmid; Seite 98

Preiswert, haltbar, leicht und vielseitig anzuwenden - das waren bislang wesentliche Vorzüge von Kunststoffen; und als ausgezeichnete Isolatoren galten sie auch. Neuartige Polymere aber leiten den elektrischen Strom schon so gut wie Metalle. Damit eröffnen sich neue Einsatzmöglichkeiten für diese Vielzweckwerkstoffe.

Intelligente Gele

Von Yoshihito Osada und Simon B. Ross-Murphy; Seite 104

Netze aus langkettigen Molekülen schrumpfen oder schwellen auf äußere Reize hin. Dadurch könnten sie die Grundlage neuartiger Maschinen bilden, die angemessen auf Umgebungsbedingungen reagieren und geschmeidig wie Muskeln sind.

Kolloidale Systeme
Von Markus Antonietti; Seite 110

Die chemischen Wirkungen von Ultraschall

Von Kenneth S. Suslick; Seite 116

Intensive hochfrequente Schallwellen erzeugen in Flüssigkeiten kleine, zunächst wachsende Blasen, die schließlich implodieren und dabei lokal für kurze Zeit eine enorme Hitze entwickeln. Diese extremen Bedingungen schaffen eine ungewöhnliche Umgebung für chemische Reaktionen.


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