Geschichten von Sonne, Wind, Regen und Schnee

Der Sonnenstrahl
Wißt ihr, welche Mutter die allermeisten Kinder hat? Das ist die Frau Sonne, die oben am Himmel wohnt.
Stellt euch einmal vor: die vielen, vielen Sonnenstrahlen, die jeden Tag auf die Erde her-unterkommen, um sie zu beleuchten und zu erwärmen - das sind doch alles ihre Kinder.
Frau Sonne hat manchmal recht viel Mühe und Plage mit der großen Kinderschar; aber sie hat auch ihre Freude an ihnen. Zum Beispiel, wenn sie sieht, wie fleissig sie da unten auf der Erde ihre Arbeit verrichten. Die allergrößte Freude aber ist es, wenn des Abends Frau Sonne all ihre Strahlenkinder hineinruft zum Schlafen. Dann kommen sie alle, einer nach dem anderen an; die einen müde, die anderen noch ganz frisch und munter, und dann fängt ein Erzählen und Lachen und Schwatzen an. Wer könnte auch wohl mehr erzählen als die Sonnenstrahlen? Nun hört, was der eine von ihnen gestern abend erzählte!
„Heut’ habe ich etwas ganz Neues gehört,“ sagte er, „etwas, das ich noch nicht gewußt habe. Ich sah durch ein geöffnetes Fenster in ein kleines Zimmer hinein, da saß eine Groß-mutter in einem Sessel. Auf ihrem Schoß lagen eine Menge Blumen: Schlüsselblumen, Schneeglöckchen und Veilchen.
Vor ihr, auf dem Boden, saß ein kleines Mädchen. Sicher war es eben von einem Spaziergang zurückgekommen und hatte der Großmutter die Blumen mitgebracht. Und sicher hatte es auch draußen viel Lustiges und Schönes erlebt, denn es erzählte und lachte in ei-nem fort, und manchmal klatschte es in die Hände vor lauter Vergnügen.
Ich glaube, die Großmutter war blind, denn als ich ihr gerade ins Gesicht schien, um zu sehen, ob auch sie sich freue, da machte sie nicht ganz die Augen zu, wie andere Leute, und drehte auch nicht den Kopf weg. Aber ich sah doch, daß sie sich über das kleine Mäd-chen freute, denn sie lächelte und nickte leise mit dem Kopf.
„Ich möchte auch wieder einmal in den Wald gehen, Tannenduft riechen, die Sonne scheinen sehen und die Vögel singen hören“, sagte sie dann.
Da wurde die kleine Anna einen Augenblick ganz traurig. Sie wußte, daß die arme, gute Großmutter zu schwach und zu krank dazu war, daß sie nie wieder in den Wald gehen konnte. Eine Weile saß sie ganz still und dachte nach.
„Großmutter!“ rief sie auf einmal und sprang auf, streichelte die alte Frau und küßte sie - „Großmutter, weißt du was? Morgen gehe ich noch einmal in den Wald und hole ganz, ganz viele Tannenzweige, und die stelle ich alle hin, ganz dicht vor dich, daß du sie riechen kannst, dann kannst du dir vorstellen, du wärst im Wald. Und dann rücke ich deinen Sessel in die Sonne, und dann, dann singe ich ich dir Lieder vor. Weißt du - die, die du so gerne hörst.“
Und mit ihrer hellen, frischen Stimme sang die Kleine der Großmutter ein Lied vor.
Als ich wieder der Großmutter in die Augen sah, sah ich, daß zwei Tränen daraus hervor-rollten; aber es mußten wohl Freudentränen sein, denn die Großmutter machte ein sehr, sehr glückliches, frohes Gesicht. Sie winkte das kleine Mädchen zu sich heran und strich ihr mit der Hand über das blonde Haar, dann sagte sie: „Ich danke dir, mein Sonnenstrahl.“ --
„Nun, was sagt ihr dazu?“ fragte der Sonnenstrahl, der diese Geschichte den anderen erzählt hatte. „Was sagt ihr dazu, daß es auch Sonnenstrahlen gibt, die so aussehen wie Menschen? Habt ihr das schon gewußt?“
„Nein“, sagten die anderen und waren sehr erstaunt. „Dann ist das kleine Mädchen wohl eine Schwester von uns? Wir wollen doch einmal die Mutter fragen.“ - Und sie fragten die Mutter Sonne. Die Mutter Sonne antwortete: „Eine Schwester von euch ist das kleine Mäd-chen nicht, denn sie ist ja kein wirklicher Sonnenstrahl, sondern ein Menschenkind. Aber ich will euch sagen, warum die Großmutter sie so genannt hat. Seht: Ihr Sonnenstrahlen macht es überall, wo ihr hinkommt hell und froh und warm, nicht wahr? Überall, wo die Sonne scheint, sieht es gleich viel lustiger aus. Nun - und das kleine Mädchen machte das Leben der alten blinden Großmutter auch hell und froh, und deswegen sagte die Großmutter zu ihr: mein Sonnenstrahl.
Und deswegen, weil die kleine Anna so ist wie ein Sonnenstrahl, sollt ihr sie auch so lieb haben wie eine Schwester.“
„Das wollen wir! Das wollen wir!“ riefen alle Sonnenstrahlen zugleich.
„Ich werde ihr morgen früh, wenn sie aufwacht, einen Kuß geben“, sagte der eine.
„Und ich werde die Rosenknospen in ihrem Garten recht warm bescheinen, damit sie bald aufbrechen“, rief ein anderer.
„Ich werde ihr die Kirschen am Baum reifmachen.“
„Oh - und ich - ich weiß, was ich tue! Im Garten hängt Puppenwäsche, die hat ganz sicher die kleine Anna aufgehängt. Ich werde so lange die Wäsche bescheinen, bis sie trocken ist.“

©by Angela Weissenfels
 
 

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