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Silke Maaßen/Martin Pfaff/Peter Marx

Kopf-Theater

Von der Sentimentalität des unschuldigen Blicks


I can't see you, but I know you `re here!

(Wenders/Handke 1990: 122)

3. Abrakadabra, Simsalabim

Die Umcodierung, die sich in diesen Beispielen findet, entspricht jenem Prozeß, den Walter Benjamin als Allegorisierung beschreibt: "Das Bild im Feld der allegorischen Intuition ist Bruchstück, Rune. Der falsche Schein der Totalität geht aus. Denn das eidos verlischt, das Gleichnis geht ein, der Kosmos darinnen vertrocknet." (Benjamin 1991: 352) Ein Objekt wird seiner "eigentlichen" Bedeutung beraubt, um es so der Möglichkeit neuer Bedeutungen zuzuführen. Diese "Desemantisierung" findet meist durch eine formale Dekonstruktion statt, durch die das Objekt auf seine Materialität reduziert wird. Mit diesem Prinzip arbeitet auch Christo. Er verwendet - wie das Theater - Objekte aus anderen kulturellen Bereichen als Zeichen, indem er durch die Verhüllung ihre zugeschriebene Bedeutung löscht und sie so einem neuen Zeichensetzungsprozeß aussetzt. Dem verpackten Objekt bleibt nichts als seine architektonische Grundform, aber erst dadurch wird es zum Freiraum für Assoziationen und Projektionen. Dieser Vorgang kann aber nur durch die "Mitwirkung" des Zuschauers zustandekommen, dessen Phantasie komplementär das Zeichen ergänzt und ihm eine neue Bedeutung verleiht.

Vom Zuschauer erfordert dies die Bereitschaft, seine Subjektivität in den theatralen Vorgang einzubringen, das, "was dem Auge gehört", nicht als Mangel seiner selbst aufzufassen, sondern als Element des gemeinsamen Spiels. In diesem Sinne kann man also von einem "Kopf-Theater" sprechen, für das Christo mit seinen Objekten die Bühne,

d. h. die Projektionsfläche für die Assoziationen des Betrachters schafft. "Wer nicht begreift, daß Theater eine Bildfindung unseres Seins ist, an der er mit seiner Phantasie mitzuarbeiten hat, dieser Zuschauer begreift gar nichts, der wird nur sagen: man hat mir keine Illusion geliefert, nicht meine Bequemlichkeit bedient - auf diesen Zuschauer ist geschissen. Der Zuschauer soll, das ist gar kein neuer Gedanke, zum Vollender der Bilder werden, die auf der Bühne entstehen. Der Kopf des Zuschauers muß vor Anstrengung rauchen." (Seidel 1990: 10f.)

Für den Zuschauer bedeutet dies vor allem, daß er sich darauf einlassen muß, eine weitere Dimension der Dinge anzuerkennen: gegen den Augenschein zu sehen. Der Rezipient muß bereit sein, das Präsentierte als theatral zu begreifen. Ansonsten wird er den ästhetischen Prozeß nicht verstehen und ihm mit Ablehnung begegnen. Der Betrachter muß sich im wehrlosen Schauen üben. Wenn er das Gesehene ständig mit der Frage nach Realitätsgehalt und Funktion (Nutzen) konfrontiert, zerstört er das Spiel, und die Zeichen werden banal. Der Betrachter muß zum Mitspieler werden, der dem Gezeigten mit jener Offenheit begegnet, mit der er auch seinen Traumbildern gegenübertritt.

Die Vorstellung von theatralen Vorgängen, die sich in dieser Theorie widerspiegeln, sind eng mit den Vorstellungen von Retheatralisierung im Rahmen der Avantgarde - in ihrer Abwendung vom bürgerlichen Illusionstheater hin zu einem sinnlichen Theater - verbunden. Adolphe Appia sprach bereits 1899 von der Notwendigkeit, die Auffassung von "Bühnen-Wirkung" zu verändern: "Das Auge zu täuschen, hat innerhalb der echten Kunst keinen Wert: die Illusion, welche ein wahres Kunstwerk hervorruft, beruht nicht darauf, daß sie uns auf Kosten der Wirklichkeit über die Natur der Dinge oder der Sinneseindrücke irre führe, sondern sie will uns im Gegenteil so tief in eine neue Schauweise mit sich ziehen, daß diese Schauweise unsere eigene zu werden scheint." (Appia 1991: 42) Im Rahmen dieses Prozesses verändert sich der Blick der Theatermacher.

So tritt u. a. die Materialität des Raumes in den Vordergrund. Der Raum wird als Raum thematisiert. Der Bühnen-Raum bleibt nicht länger nur Spiel-Fläche für die Darsteller, sondern er wird als Bedeutungsraum, d. h. als eigenständiges Subjekt des theatralen Ereignisses, entdeckt. Der Begriff der Theatralität erweitert sich.

4. Punkt, Punkt, Komma, Strich ...

In besonderem Maße bemühte sich Oskar Schlemmer (1888-1943) um die Dominantsetzung der Bühne als Raum. In "Das Triadische Ballett" (1922) setzte er analog zu Verfahrensweisen der Architektur "alle Geschehnisse auf der Bühne raumbedingt zueinander in Beziehung." (Scheper 1988: 254) Zentrale Bedeutung haben die mathematischen Grundformen Kreis, Quadrat und Dreieck, die auf den Raum der Bühne übertragen werden und ihn somit neu strukturieren. Schlemmer geht in seinem "Triadischen Ballett" von einer "kubisch-abstrakten" Raumkonstellation aus, bei der sich der Raum durch die Form des Kubus definiert. Die Form des Kubus kann unterteilt werden in Linien, daraus entstehende Flächen und die Kombination dieser Flächen zu dreidimensionalen Körpern. Durch die Übertragung dieser Gebilde auf den Raum der Bühne wird er zu einem Komplex aus "Maß und Zahl" (Scheper 1988: 254ff.). Eine solche Definfition impliziert, daß dem Raum eine Meßbarkeit zugrundeliegt, die eine bestimmte räumliche Wahrnehmung ermöglicht. Die sich aus diesem abstrakt-geometrischen Modell ergebenden Gesetzmäßigkeiten des Raumes wendet Schlemmer auch auf die in den Raum gestellten Menschen an. So werden z. B. durch das Kostüm kubische Formen auf menschliche Körper übertragen. Die Kostüme verdeutlichen einerseits die Gesetze des Menschen - Synthese aus Mechanismus und Organismus - und andererseits die Gesetze des Raumes. Das Kostüm, die Verkleidung, "deformiert" ihren Träger, entindividualisiert und reduziert ihn auf bestimmte Teilaspekte. Die so entstandene neue Oberfläche stellt den menschlichen Körper in "abstrahierter Form" dar, um ihn für einen neuen Blick freizusetzen. Der "Mensch im Raum" kann einerseits über das Kostüm und die Bewegung eine Synthese der aufeinandertreffenden unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten von Mensch und Raum verkörpern und andererseits als abstrahierte Darstellung seiner selbst artifizielles Element im theatralen Text sein.

Die von Schlemmer - durch Reduktion auf geometrische Formen - geschaffenen `imaginären Räume' stehen in enger Verwandtschaft zu Christos Kunstobjekten und Wilsons Schuhen. In all diesen Beispielen werden Kunstorte zu freien Gedankenräumen für den Betrachter.

5. Knusper, knusper, knäuschen, wer knabbert an meinem Häuschen?

Aber es ist doch der Reichstag, der dort verpackt wird. Das zentrale Symbol unserer Republik wird - leichtfertig - einem ästhetischen Prozeß ausgesetzt, der nicht verbindet, "was zusammengehört", sondern polarisiert. Die Klarheit verliert sich. Die Bedeutungen fliegen auseinander. Das Gemeinwesen wird in Einzelteile aufgesplittert, von denen keine zwei dasselbe wahrnehmen. Setzen wir unsere Gesellschaft nicht leichtsinnig dem Zerfall aus, zu einem Zeitpunkt, da das Gefühl für eine gemeinsame, öffentliche Sache (res publica) verloren zu sein scheint?

Diese Bedenken gehen am Kern der Sache vorbei. Einheitlichkeit ist nicht das Ziel von Demokratie, sondern Vielfalt, die sich gemeinsam zur friedlichen Entscheidungsfindung zusammenfindet, ist ihr zentrales Element. Wenn die Steine, die der Demokratie den Staat bedeuten (das Parlament), jene Funktion übernehmen, die sonst die Bretter haben, die die Welt bedeuten, dann sollte man dies als Chance begreifen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Angst vor Polarisierung behauptet implizit, daß es eigentlich eine kollektive Wahrnehmung gebe. Die Verhüllung ist in diesem Sinne nur ein Akt der Ehrlichkeit, die offensichtlich macht, was ohnehin (nicht) existiert.

Der theatrale Blick, das wehrlose Schauen, gerät so zur Utopie für eine "andere" Gesellschaft, denn er ist - im besten Sinne des Wortes - unschuldig. Er versucht nicht das Gesehene mit Gewalt zu verändern oder zu vereinheitlichen. Die Differenz ist ihm nicht Defizit, sondern erfreuliche Variation und Vielfalt. Wo Uniformität kein Wert mehr ist, beginnt die friedliche Koexistenz. "Sie [die Politik] sollte den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann." (Adorno 1993, S. 131)

Sentimental ist der theatrale Blick in seinem Bestreben, der kommerziellen, einheitlichen Bilderübermacht die Anarchie der individuellen Phantasie entgegenzuhalten. Damit behauptet die Phantasie die Idee des Individuums gegen die Einteilung in wirtschaftliche Zielgruppen; dem Terror der tausendfach gesehenen Fast-Food-Ab-Bilder setzt sie die subjektive und autonome Wahrnehmung entgegen: "Revolution eben nicht als Lokomotive des Fortschritts wie bei Marx, sondern als der Versuch, die Zeit anzuhalten oder die Geschwindigkeit zu verlangsamen, zu drosseln. Die totale Beschleunigung führt zur Vernichtung. Revolution als das Konservative." (Müller 1994: 145)

Ängstlichkeit ist fehl am Platze. Viel zu verlieren haben wir ohnehin nicht.


    (1)Interessant wäre auch eine Untersuchung der heutigen Standpunkte von denjenigen, die in der Parlamentsdebatte noch der "Was soll das Theater?" - Fraktion angehörtenund sich mittlerweile der Rolle des ästhetischen Wendehalses angenommen haben,um das in bezug auf das Verpackungskunstwerk herrschende positive Klima fürschmückende Selbstverschleierungen zu nutzen


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