Vom Zuschauer erfordert dies die Bereitschaft, seine Subjektivität in den theatralen Vorgang einzubringen, das, "was dem Auge gehört", nicht als Mangel seiner selbst aufzufassen, sondern als Element des gemeinsamen Spiels. In diesem Sinne kann man also von einem "Kopf-Theater" sprechen, für das Christo mit seinen Objekten die Bühne,
d. h. die Projektionsfläche für die Assoziationen des Betrachters schafft. "Wer nicht begreift, daß Theater eine Bildfindung unseres Seins ist, an der er mit seiner Phantasie mitzuarbeiten hat, dieser Zuschauer begreift gar nichts, der wird nur sagen: man hat mir keine Illusion geliefert, nicht meine Bequemlichkeit bedient - auf diesen Zuschauer ist geschissen. Der Zuschauer soll, das ist gar kein neuer Gedanke, zum Vollender der Bilder werden, die auf der Bühne entstehen. Der Kopf des Zuschauers muß vor Anstrengung rauchen." (Seidel 1990: 10f.)
Für den Zuschauer bedeutet dies vor allem, daß er sich darauf einlassen muß, eine weitere Dimension der Dinge anzuerkennen: gegen den Augenschein zu sehen. Der Rezipient muß bereit sein, das Präsentierte als theatral zu begreifen. Ansonsten wird er den ästhetischen Prozeß nicht verstehen und ihm mit Ablehnung begegnen. Der Betrachter muß sich im wehrlosen Schauen üben. Wenn er das Gesehene ständig mit der Frage nach Realitätsgehalt und Funktion (Nutzen) konfrontiert, zerstört er das Spiel, und die Zeichen werden banal. Der Betrachter muß zum Mitspieler werden, der dem Gezeigten mit jener Offenheit begegnet, mit der er auch seinen Traumbildern gegenübertritt.
Die Vorstellung von theatralen Vorgängen, die sich in dieser Theorie widerspiegeln, sind eng mit den Vorstellungen von Retheatralisierung im Rahmen der Avantgarde - in ihrer Abwendung vom bürgerlichen Illusionstheater hin zu einem sinnlichen Theater - verbunden. Adolphe Appia sprach bereits 1899 von der Notwendigkeit, die Auffassung von "Bühnen-Wirkung" zu verändern: "Das Auge zu täuschen, hat innerhalb der echten Kunst keinen Wert: die Illusion, welche ein wahres Kunstwerk hervorruft, beruht nicht darauf, daß sie uns auf Kosten der Wirklichkeit über die Natur der Dinge oder der Sinneseindrücke irre führe, sondern sie will uns im Gegenteil so tief in eine neue Schauweise mit sich ziehen, daß diese Schauweise unsere eigene zu werden scheint." (Appia 1991: 42) Im Rahmen dieses Prozesses verändert sich der Blick der Theatermacher.
So tritt u. a. die Materialität des Raumes in den Vordergrund. Der Raum wird als Raum thematisiert. Der Bühnen-Raum bleibt nicht länger nur Spiel-Fläche für die Darsteller, sondern er wird als Bedeutungsraum, d. h. als eigenständiges Subjekt des theatralen Ereignisses, entdeckt. Der Begriff der Theatralität erweitert sich.
Die von Schlemmer - durch Reduktion auf geometrische Formen - geschaffenen `imaginären Räume' stehen in enger Verwandtschaft zu Christos Kunstobjekten und Wilsons Schuhen. In all diesen Beispielen werden Kunstorte zu freien Gedankenräumen für den Betrachter.
Diese Bedenken gehen am Kern der Sache vorbei. Einheitlichkeit ist nicht das Ziel von Demokratie, sondern Vielfalt, die sich gemeinsam zur friedlichen Entscheidungsfindung zusammenfindet, ist ihr zentrales Element. Wenn die Steine, die der Demokratie den Staat bedeuten (das Parlament), jene Funktion übernehmen, die sonst die Bretter haben, die die Welt bedeuten, dann sollte man dies als Chance begreifen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Angst vor Polarisierung behauptet implizit, daß es eigentlich eine kollektive Wahrnehmung gebe. Die Verhüllung ist in diesem Sinne nur ein Akt der Ehrlichkeit, die offensichtlich macht, was ohnehin (nicht) existiert.
Der theatrale Blick, das wehrlose Schauen, gerät so zur Utopie für eine "andere" Gesellschaft, denn er ist - im besten Sinne des Wortes - unschuldig. Er versucht nicht das Gesehene mit Gewalt zu verändern oder zu vereinheitlichen. Die Differenz ist ihm nicht Defizit, sondern erfreuliche Variation und Vielfalt. Wo Uniformität kein Wert mehr ist, beginnt die friedliche Koexistenz. "Sie [die Politik] sollte den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann." (Adorno 1993, S. 131)
Sentimental ist der theatrale Blick in seinem Bestreben, der kommerziellen, einheitlichen Bilderübermacht die Anarchie der individuellen Phantasie entgegenzuhalten. Damit behauptet die Phantasie die Idee des Individuums gegen die Einteilung in wirtschaftliche Zielgruppen; dem Terror der tausendfach gesehenen Fast-Food-Ab-Bilder setzt sie die subjektive und autonome Wahrnehmung entgegen: "Revolution eben nicht als Lokomotive des Fortschritts wie bei Marx, sondern als der Versuch, die Zeit anzuhalten oder die Geschwindigkeit zu verlangsamen, zu drosseln. Die totale Beschleunigung führt zur Vernichtung. Revolution als das Konservative." (Müller 1994: 145)
Ängstlichkeit ist fehl am Platze. Viel zu verlieren haben wir ohnehin nicht.