Szene aus "Une Femme Douce" von Robert Wilson
Foto: Yves Pezet
Eine Person geht durch einen Raum und nichts passiert. Eine andere Person geht durch einen Raum, während eine dritte ihr zusieht, und es ist Theater. Ein Gebäude wird mit Folien bespannt, vielleicht um den Staub aufzufangen, der bei Bauarbeiten entsteht, und nichts passiert. Ein anderes Gebäude wird mit Folien bespannt, mit Sicherheit nicht, um irgendwelche Bauarbeiten ungehindert ausüben zu können, und es ist Kunst.
Dem Phänomen, das aus "alltäglichen" Handlungen ästhetische Prozesse werden läßt, versucht dieser Aufsatz nachzuspüren. Der Unterschied zwischen den beiden Männern, die durch einen Raum gehen, liegt im Blick des Betrachters. Der Raum, der jeweils durchquert wird, ist beliebig. Es kann sich um eine institutionalisierte Theaterbühne handeln, es kann sich aber auch um eine Fußgängerunterführung oder irgendeinen anderen Platz handeln. Entscheidend ist der Betrachter, der diesen Vorgang als theatral begreift. Theater ist notwendig eine öffentliche und eine kommunikative Kunst. Der Zuschauer ist nicht nur ein applaudierendes Anhängsel, der aus finanziellen Gründen dazugebeten wird, sondern er ist konstitutierender Bestandteil eines jeden theatralen Prozesses. Was bei Kleist noch Aufschrei des Entsetzens war - "Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün - und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört." (Kleist 1986: 200) -, wird der Avantgarde zum Spielgegenstand: die subjektive Wahrnehmung. Der Blick des Rezipienten ist frei. Er wird beispielsweise nicht durch Schnitte oder Kameraeinstellungen gelenkt, sondern er kann umherschweifen. Der Blick kann verweilen oder weitereilen, die Bühne ermöglicht es ihm, sich auf verschiedene Punkte zu konzentrieren. Auch das Wegsehen ist möglich. Das Auge des Theaterbesuchers komponiert sich die Bilderfolge selbst. So kommt es, daß Theater zwar ein kollektives Erleben bedeutet, aber jeder einzelne seine subjektive Sicht behält.
"Die Ästhetik, welche das Theater verwirklicht, ließe sich vielleicht am angemessensten als "Ästhetik der Unterbrechung" kennzeichnen und beschreiben. Der frei durch den Raum schweifende Blick des Zuschauers hält plötzlich inne, verharrt bei einer Geste, einem Blick, einem Lichtstrahl, einem Farbfleck, einem Gegenstand, ehe er seine Wanderung wieder aufnimmt. Der Weg seines Blicks ebenso wie dessen Haltepunkte und ihre Dauer werden von der Interaktion des auf der Bühne präsentierten Materials mit seinem je individuellen subjektiven Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Phantasievermögen, mit seiner besonderen Bedürfnisstruktur bestimmt." (Fischer-Lichte 1993: 433)
Ihren Austausch von Beziehungsproblemen unterbrechend, werfen zwei Passanten für eine kurze Weile einen Blick in das Schaufenster eines Schuhgeschäftes. Es ergibt sich eine Meinungsverschiedenheit über die ausgestellte Ware. Versuche, den anderen von der Schönheit bzw. Unmöglichkeit eines bestimmten Schuhmodells zu überzeugen, scheitern. Letztlich schließt der eine, der vergeblichen Diskussion müde: "Irgendwie sind Schuhe auch nur Projektionsflächen."
Und dann fliegt der Schuh durch den Raum, und man weiß nicht unmittelbar warum. Das Aufschlagen des Requisits auf dem Bühnenboden wird von einer Toneinspielung in den Zuschauerraum, einem lauten Klirren, begleitet. Und dieser Vorgang ist wiederum Impuls für weitere gleichzeitige und aufeinanderfolgende Vorgänge (z. B. eine Lichtveränderung). Unmöglich, die gesamte Zeichenfülle dieses theatralen Ereignisses wahrzunehmen. Man befindet sich in der Theaterinszenierung "Die Sanfte" (1994) von Robert Wilson. Auch die sprachlichen Elemente in dieser Inszenierung dienen in erster Linie dem theatralen Spiel. Kein Drama liegt diesem Theaterabend zugrunde, das illustrativ und linear umgesetzt würde. Lediglich Sprachmaterial enthält diese Aufführung. Die Repliken in deutscher, französischer und englischer Sprache bilden ein rhythmisches Klanggebilde - beispielsweise durch die Wiederholung bzw. Variation eines gleichen Satzes durch eine andere der drei Sprachen -, das in keinem eindeutigen Bedeutungszusammenhang zu den anderen verwendeten Zeichensystemen steht. "Dasein, nicht Bedeuten, ist das oberste Prinzip der Wilsonschen Schaubühne." (Pfister 1988: 458) An dieser Reduktion des komplexesten Zeichensystems des Menschen, der Sprache, auf seine materielle Oberfläche wird deutlich, wie wenig oder gar nicht es in dieser Theaterform auf die Vermittlung rational-diskursiver Inhalte oder Botschaften ankommt. Wilson selbst sagt zu seiner Theaterarbeit, er wolle damit "eine Art optische[r] Musik" erzeugen (Wilson in: Barck 1993: 372). Das Zeichenmaterial in Robert Wilsons Theater wird desemantisiert, indem das Ausstellen der Materialität der verwendeten Zeichen in den Vordergrund gestellt wird. In diesem Sinne ist Wilson sozusagen ein "ungleicher Bruder" Christos: Wilson verhüllt zwar keine bestehenden Bedeutungssysteme, aber auch er nimmt ihnen den "semantischen Kern", indem er konkrete Gegenstände in einen abstrakten Kontext stellt, bis nur noch die Hülle eines Zeichens bleibt. (Bei Christo bleibt die Desemantisierung temporär, da durch die abschließende Enthüllung das Objekt in seinen ursprünglichen Bedeutungskontext zurückgeführt wird.)
Im Rezeptionsprozeß kann nun etwas völlig Neues geschehen: "[D]em Zuschauer [wird] die Möglichkeit eröffnet, die Bühnenvorgänge - ähnlich wie seine eigenen Traumbilder - als eine eigenartige, zunächst fremde Welt staunend wahrzunehmen, deren Elemente wohl vertraut erscheinen, ohne sich jedoch miteinander zu einer übergeordneten Sinneinheit verbinden zu lassen. Wenn der Zuschauer sich auf die konkreten Gegebenheiten dieser Welt ohne Hast und ohne den Drang, allem sofort eine Bedeutung beilegen zu müssen, einläßt, können assoziative Verknüpfungen in ihm neue Erfahrungen auslösen und bisher unbekannte Sinnpotentiale aufschließen." (Fischer-Lichte 1990: 286) Und nie ist eine Antwort allein ausreichend oder erfüllend, um einen Moment dieser Inszenierung zu fassen und auf den Punkt zu bringen. So können beispielsweise die besagten Schuhe in der Aufführung unterschiedlichste "Rollen" annehmen, je nach dem, welches Bild sich der Zuschauer von ihnen macht. Sind die Schuhe bloße Schuhe, die in ihrer Sinnlichkeit zur Schau gestellt werden? Wird ihnen vielleicht - einen kurzen Augenblick lang - eine konkrete Bedeutung zugeschrieben, wenn die Bewegungen der drei männlichen Hauptakteure für eine Weile den Anschein erwecken, als wären sie Ballspieler, die sich den Ball (einen Schuh) zuwerfen? Oder handelt es sich bei den Schuhen - verwegen assoziiert, es drehe sich bei den drei männlichen Hauptakteuren um die veranschaulichende Aufteilung einer Figur in drei unterschiedliche Darstellungen von Lebensabschnitten einer Biographie - gar um ein Symbol für die verlorene Unbefangenheit des Mannes, dem seine "Sanfte" abhanden gekommen ist, da doch der elfjährige Kinderdarsteller im Gegensatz zu den beiden älteren Darstellern noch nicht die "zivilisatorischen Fußumhüllungen" (Schuhe) trägt, also noch natürlich und unschuldig ist? Und so weiter.