Der Selbstentmachtung des Parlaments als Vorspiel zur nationalsozialistischen Machtergreifung folgte die Zerstörung des Gebäudes: zunächst durch den Brand im Februar 1933, dessen Urheber nach wie vor umstritten sind (Backes u.a. 1986), und schließlich in den schweren Kämpfen gerade um den Reichstag bei der Eroberung Berlins durch die Rote Armee Ende April 1945. Es ist in der Retrospektive erstaunlich und schwer nachvollziehbar - aber für die Sowjets war nicht Hitlers Reichskanzlei, sondern das Reichstagsgebäude das symbolische Zentrum Berlins und des Großdeutschen Reichs (Read/Fisher 1995: 679 ff.)
- vielleicht weil es zur Festung vermauert und mit Maschinengewehren bestückt zu einem Symbol der Gewalt im oben beschriebenen Sinn geworden war -, und so konnte die Rote Fahne auf dem Dach des Reichstags, unbeschadet dessen, daß das berühmte Bild am Tag nach der Eroberung des Gebäudes nachgestellt worden ist, zum Symbol der endgültigen Bezwingung Nazi-Deutschlands werden. Die Ruine des Reichstagsgebäudes mit dem Kriegsschrott auf dem Königsplatz davor wurde neben den Luftaufnahmen zerbombter Städte zum Symbol der totalen Niederlage Deutschlands. Gut drei Jahre später bildete die Ruine des Reichstags dann die Kulisse für die berühmte Rede Ernst Reuters gegen die sowjetische Blockade des Westteils der Stadt und wurde so mit einer weiteren Symbolik aufgeladen, zu der schließlich noch die Vereinigungsfeier am 3. Oktober 1990 hinzutrat.
In Anbetracht der Fülle der Umsymbolisierungen seit der Einweihung des Gebäudes konnte der Reichstag und seine Umgebung nicht in der ursprünglichen Gestalt wiederhergestellt werden. Eine Orientierung an der Anordnung Churchills zur originalen Wiederherstellung von Westminster war nicht möglich. Das 1990 vereinigte Deutschland hat sicherlich Kontinutätslinien zu dem durch Bismarck gegründeten Reich, aber ebenso Brüche und Distanzen. Worauf es somit ankommt, ist die "Aufhebung" der deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre in der Symbolik des Gebäudes, sowohl hinsichtlich ihrer guten wie ihrer schlimmen Seiten. Der Blick auf Wallots Entwurf und die Ausgestaltung des Gebäudes zeigt, daß dieses Problem keines ist, das sich mit dem Reichstagsgebäude erst jetzt aus dem Rückblick der neunziger Jahre verbindet. Im Gegenteil - es war ihm von Anfang an eingeschrieben. Das Reichstagsgebäude war von Anfang an ein komplexes Symbol, und es ist auch die seitdem stattgehabte deutsche Geschichte noch komplexer geworden. Sicherlich ist es nicht immer leicht, sich dieser Komplexität zu stellen, aber es kann davon nicht, genausowenig wie in der Historiographie, irgendeinen Dispens geben.
Solchen Dispens hätte die Rahmungs- und Zitatarchitektur der ursprünglichen Umgestaltungsentwürfe dargestellt. Es ist gut, daß sie nicht zum Zuge gekommen sind, so wie es auch gut ist, daß in der Mitte der Gebäude wieder eine Kuppel gebaut wird. Wallot hatte auf ihr gegen erhebliche Bedenken des Kaisers bestanden: Sie war für ihn architektonischer Ausdruck für die Würde und Macht des hier tagenden Parlaments. Die Kuppel des Reichstags machte den Kuppeln des Stadtschlosses wie des Domes den Anspruch auf die höchste Macht und Würde streitig. Auch wenn das Stadtschloß heute nicht mehr existiert - es gab und gibt keinen Grund, von diesem Anspruch abzurücken. Macht bedarf, soll sie sichtbar werden, der Symbole. Daß das Unsichtbarlassen der Macht besonders demokratisch sei, ist ein verbreitetes Mißverständnis. Der Reichstag bildet nicht zuletzt auch aus Anlaß seiner Verhüllung die Möglichkeit, dem entgegenzuarbeiten.
(2)Offenkundig ist die öffentliche Diskussion über Lage und Gestalt des Reichstags inden siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit größererIntensität geführt worden als die jüngste Debatte über die Umgestaltung (vgl.Cullen: 85ff.). Das sollte hinsichtlich der üblichen selbstzufriedenen Kontrastierungvon autoritärem Kaiserreich und demokratischer Republik zu denken geben. DieKritiker des Fosterschen Glasdachs und anschließend seiner ersten Kuppelkonstruktionen haben, was auch immer die Motive ihrer Kritik gewesen sein mögen, dem demokratischen Leben einen größeren Dienst erwiesen, als diejenigen, dieFosters Entwürfe guthießen, bloß weil sie anders waren als der historische Reichstag.
(3)Das ist der Grund, warum Arthur Rosenberg seine Darstellung der Weimarer Republik mit dem Jahre 1930 und der Bildung der ";Brüning-Diktatur"; hat enden lassen(Rosenberg 1961: 210).
(4)Die Formel geht zurück auf den Titel eines Buches von Fritz René Allemann (Köln 1956).
(5)Scheidemann beendete seine improvisierte Ansprache mit den Worten: ";Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe dieDeutsche Republik!"; (Schulze: 1982).
Améry, Jean 1965: Winston S. Churchill. Ein Jahrhundert Zeitgeschichte, Luzern-Frankfurt/M. 1965
Arendt, Hannah 1970: Macht und Gewalt, München
Backer, Uwe u.a. 1986: Reichstagsbrand - Aufklärung einer historischen Legende. Mit einem Vorwort von Louis de Jong, München
Buddensieg, Tilman 1994: Berliner Labyrinth, Berlin
Cullen, Michael S. 1990: Der Reichstag. Geschichte eines Monumentes, Stuttgart
Dieckmann, Friedrich 1995: Wege durch die Mitte. Stadterfahrungen, Berlin
Grünberger, Hans 1996: Raubvogel und kaiserliches Wappentier. Laster- und Tugendkataloge in der Karriere des Adlers als Herrschaftssymbol in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (im Erscheinen), voraussichtlich Heidelberg
Münkler, Herfried 1994: Politische Bilder. Politik der Metaphern, Frankfurt/M.
Münkler, Herfried 1995: Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung, in: Gerhard Göhler (Hrsg.): Öffentlichkeit der Macht, Macht der Öffentlichkeit (im Erscheinen), Baden-Baden
Read, Anthony/Fisher, David 1995: Der Fall von Berlin. Aus dem Englischen von H.W. Baadke u.a., Berlin
Rosenberg, Arthur 1961: Geschichte der Weimarer Republik, hrsg. von Kurt Kersten, Frankfurt/M.
Schulze, Hagen 1982: Weimar. Deutschland 1917-1933, Berlin
(Der Autor)
Münkler, Herfried, geb. 1951, Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin.
Veröffentlichungen: Machiavelli.
Die Begründung des politischen
Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M. 1982,
31990; Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der
Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1987; Siegfrieden. Politik mit einem
deutschen Mythos (zusammen mit Wolfgang Storch), Berlin 1988; Odysseus und
Kassandra. Politik im Mythos, Frankfurt/M. 1990, 21991; Gewalt und Ordnung. Das
Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt/M. 1992; Hobbes zur
Einführung, Frankfurt/M. 1993. Politische Bilder, Politik der Metaphern.
Frankfurt/M. 1994 (Fischer TB).