Bei dieser Entscheidung helfen uns - das ist gesagt worden - künstlerische Kriterien nicht weiter. Das ist keine Entscheidung über Kunst. Sie kann und sie darf dies nicht sein. Niemand von uns wird sich anmaßen wollen, zu entscheiden, ob das Vorhaben von Christo künstlerisch sinnvoll ist oder nicht.
Christo selbst hat im vergangenen Jahr erklärt, er lasse sich auf akademische Erörterungen über die Frage, was Kunst ist, nicht ein. Ihm gehe es um die sozialen und politischen Elemente seiner Arbeit. Dies müssen auch für uns die entscheidenden Gesichtspunkte sein.
Deshalb geht es nicht um die Frage, ob die einen mehr aufgeschlossen sind für Kunst und für das, was mit Kunst bewirkt, auch provozierend bewirkt werden kann, als die anderen. Man sollte den Kritikern und Gegnern der Reichstagsverhüllung genauso wenig Sensibilität und Urteilsvermögen absprechen, wie den Befürwortern des Vorhabens. Jedenfalls braucht den Vorwurf der Ignoranz niemand auf sich sitzen zu lassen.
November 1987
©Landesbildstelle, Berlin
Ich meinerseits habe großen Respekt vor dem Werk und dem Schaffen von Christo. Seine Aktionskunst scheint mir von hoher, - nicht nur ästhetischer - Wirkung, und sie lehrt uns, vieles mit anderen Augen zu sehen. Auch mich haben seine Werke beeindruckt, ob es die von rosafarbenen Plastikbahnen umkränzten Inseln in Florida waren, die Schirmlandschaften in Japan oder Kalifornien, der riesenhafte Vorhang quer durch eine Schlucht in Colorado oder zuletzt die von sandfarbenem Kunststoff verhüllte Brücke Pont Neuf in Paris.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Reichstag ist eben nicht Pont Neuf. Der Reichstag ist ein herausragendes politisches Symbol der jüngeren deutschen Geschichte, ein Symbol, das wie kaum ein zweites die Höhen wie die Tiefen unserer Geschichte repräsentiert. Die Wechselfälle, die schmerzlichen Zäsuren haben an dem Gebäude ihre Spuren unmittelbar hinterlassen. So ist der Reichstag zu Berlin steinernes Zeugnis deutschen Schicksals in diesem Jahrhundert.
Von einem seiner Balkone rief Philipp Scheidemann 1918 die erste freiheitliche deutsche Republik aus. Im Februar 1933 lieferte der Reichstagsbrand den Nationalsozialisten einen Vorwand, mit dem Ermächtigungsgesetz ihre barbarische Diktatur zu errichten. Zwölf Jahre später hißten zwei Rotarmisten auf seinem Dach die Sowjetflagge zum Zeichen des Untergangs des Dritten Reiches. Wir, der Deutsche Bundestag, haben während der Teilung Deutschlands und Berlins mit unserer Präsenz im Reichstag unser Festhalten am Ziel der Einheit in Frieden und Freiheit und an der Zugehörigkeit des freien Berlins zur Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck gebracht. Hinter der Ostfassade des Reichstags verlief fast 20 Jahre lang die Schandmauer, die Berlin, Deutschland und Europa teilte. Vor der Westfassade haben wir in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Freiheit und Frieden feierlich begangen.
Wir Deutsche besitzen nicht viele Symbole, die die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre mit ähnlicher Wucht, mit ähnlicher Dramatik lebendig werden lassen. So ist der Reichstag wohl das symbolträchtigste und bedeutungsvollste politische Bauwerk in Deutschland. Mit einem solchen Symbol sollten wir sorgsam umgehen!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie haben vielleicht zuwenig bedacht, wie viele unserer Mitbürger Schwierigkeiten haben, die Debatte und jede denkbare Entscheidung zu verstehen. Wir sollten uns Mühe geben, unsere Argumente klar vorzutragen. Christo selbst wirbt für seine Projekte gerne mit dem Hinweis, daß sich ihre Wirkung auf die Menschen im voraus kaum berechnen lasse, daß man die Resultate erst konkret vor sich sehen müsse. Es sind Experimente, und daran ist sonst ja auch nichts auszusetzen. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil der Reichstag eben nicht irgendein Gebäude ist, sollten wir mit ihm gerade keine Experimente veranstalten.
Es ist auch gesagt worden, Christo bemühe sich seit 20 Jahren um das Projekt. Mit allem Respekt: Mich irritiert etwas die Beliebigkeit, mit der die Begründungen in diesen 20 Jahren abwechseln, die für das Projekt vorgetragen worden sind. Zunächst hieß es, der Reichstag sei ein Symbol des Dritten Reiches - was historisch nun wirklich falsch
ist -, seine Verhüllung ordne sich ein in die Bemühungen, die NS-Vergangenheit in Deutschland aufzuarbeiten. Dann wurde gesagt, das Verhüllungsprojekt ziele auf die besondere Dramatik, die sich mit der Lage des Reichstages im Schatten der Mauer, an der Nahtstelle zwischen Ost und West verbinde. Der Reichstag werde durch die Verhüllung als Symbol der Teilung ins Bewußtsein gehoben. - Jetzt, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, geht es angeblich weniger um die Verhüllung als um Enthüllung. Jetzt geht es um den Reichstag als Symbol für den Neuanfang im vereinten Deutschland.
Frank Schirrmacher schrieb dieser Tage in der FAZ, alle Argumente, die für das Verhüllungsprojekt vorgebracht werden, hätten den Beiklang des Gesuchten. Das Verhüllungsprojekt sei letztlich eben doch nur Selbstzweck. - Mir erscheint das richtig. Es gibt keine konsistente und überzeugende Antwort auf die Frage, was das Ganze eigentlich soll.
Warum gerade der Reichstag? In keinem anderen Land gab es bisher die Überlegung, ein Gebäude von vergleichbarer Bedeutung zum Gegenstand einer solchen Aktion zu machen. Auch in anderen Ländern drücken Parlamentsgebäude Geschichte aus, aber die Hausherren im Palace of Westminster, auf dem Capitol Hill oder im Palais Bourbon würden doch niemals dem Gedanken einer Verhüllung ernsthaft nähertreten. Ist denn in diesen Ländern das Verständnis von politischem Stil, politischer Würde, von politischer Kultur gefestigter als bei uns?
Jedenfalls weiß man in anderen Demokratien um die Ehrwürde, die einem Traditionsgebäude freiheitlicher Demokratie innewohnt und innewohnen muß. Wir Deutsche tun uns schwer mit Symbolen, die unsere Geschichte zum Ausdruck bringen, und angesichts der Bräuche und Verletzungen ist das nur zu verständlich. Aber gerade deshalb sollten wir behutsam sein.
Unsere repräsentative Demokratie, ihre Institutionen, auch ihre Repräsentanten haben derzeit eher zuwenig als zu viel Vertrauen, und weil solche Defizite bestehen, müssen sie abgebaut werden. Wir sollten niemanden in Versuchung führen oder ihm Gelegenheit bieten, solche Defizite für sich auszunutzen, um unsere freiheitliche Demokratie zu schwächen.
Die Menschen in unserem Land müssen heute vieles an Veränderungen und an Verunsicherungen aushalten. Sie müssen die Belastungen aus dem wirtschaftlichen Strukturwandel tragen; sie müssen Einschnitte hinnehmen, die sie in 40 Jahren Wohlstand und sozialer Sicherung nicht mehr gewohnt waren. Sie sehen sich neuen und zusätzlichen Gefährdungen ihrer Sicherheit ausgesetzt, im Innern wie von außen her, und in dieser Situation müssen wir den inneren Zusammenhalt unserer freiheitlichen staatlichen Gemeinschaft stärken. Wir müssen uns der Grundlage unserer Gemeinschaft, unseres Fundaments gemeinsamer Werte, auch unserer nationalen Identität neu vergewissern. Wir brauchen diesen Zusammenhalt als Klammer für die Kräfte, die auch angesichts enger werdender Verteilungsspielräume eher auseinanderstreben, statt zusammenzufinden.
Wir müssen daran erinnern, daß die staatliche Gemeinschaft nicht nur durch ein System perfektionierter Rechtsnormen oder durch ein System perfektionierter Sozialleistungen, sondern vor allem durch Institutionen, in denen die grundlegenden Normen Ausdruck finden, zusammengehalten wird. Wir müssen daran erinnern, daß wir diese Institutionen stabil und integrationsfähig halten müssen, wenn diese Gemeinschaft eine gute Zukunft haben soll.
Und das hat auch mit den Bauwerken zu tun, die diese Institutionen beherbergen. Das Bild dieser Bauwerke prägt sich den Menschen ein. Und so verkörpern sie, die Bauwerke, diese Institutionen; sie repräsentieren sie nach außen. Damit sie glaubwürdig repräsentieren können, sollten wir mit ihrer äußeren Erscheinung keine Experimente veranstalten.
So ist ein Bauwerk wie der Reichstag ein politisches Symbol. In solchen Symbolen bündeln sich wie in einem Brennglas die historischen Erfahrungen eines Volkes. Es sind ruhende Pole, Achsen, um die das Mit- und Gegeneinander der politischen Kräfte über Jahrzehnte kreist. Insofern verbinden sie ein Volk auch und gerade im Widerstreit der Interessen, der Ziele und der Überzeugungen. In solchen Symbolen kann sich die innere Einheit eines Volkes verkörpern. Die ganze staatliche Gemeinschaft soll sich in solchen Symbolen wiederfinden können.
Dies, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist der Grund dafür - nicht Humorlosigkeit, Intoleranz oder mangelnder Respekt vor künstlerischer Freiheit -, warum man überall sonst auf der Welt nationalen Symbolen behutsamen Respekt angedeihen läßt, warum man ihrer Verfremdung im allgemeinen wenig abgewinnen kann.
Es ist auch gesagt worden, die Verpackung des Reichstages werde das ironische Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte dokumentieren. Ich sagte schon, daß wir Deutsche uns mit unserer Geschichte schwertun angesichts all der Umbrüche und Blessuren, angesichts der Wechselbäder von Hochstimmungen und Niederlagen gerade in den letzten 150 Jahren. Deswegen würde ich jedenfalls jeden Anschein von Ironie - und sei es nur ein Mißverständnis - im Umgang mit unserer Geschichte meiden wollen.
Staatliche Symbole, Symbole überhaupt, sollen einen, sie sollen zusammenführen. Eine Verhüllung des Reichstags - Burkhard Hirsch hat es gesagt - würde aber nicht einen, nicht zusammenführen, sie würde polarisieren. So viele Menschen würden es nicht verstehen und nicht akzeptieren können.
So viele Menschen würden den Umgang mit einem Bauwerk, das in der deutschen Geschichte eine so außergewöhnliche Bedeutung für den deutschen Parlamentarismus, für die deutsche Demokratie hat, nicht verstehen können. Wir haben doch heute schon genügend Dinge, die uns Deutsche eher auseinanderbringen, und zuwenig Dinge, die uns zusammenführen. Wir sollten es uns nicht leisten, zu viele Menschen gleichsam am Wegesrand zurückzulassen, die ein solches Unterfangen nicht verstehen und nicht nachvollziehen können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, viele verstehen nicht, daß wir uns überhaupt so intensiv mit dieser Angelegenheit befassen. Haben wir nicht genug andere Sorgen? Viele fragen sich, ob wir unsere Energie und unsere Aufmerksamkeit nicht auf Wichtigeres lenken sollten. Wie auch immer: Nachdem diese Debatte jetzt notwendig geworden ist, sollten wir entscheiden. Jedes Mitglied des Hohen Hauses sollte dabei nicht nur an seinen persönlichen Geschmack, sondern vor allem daran denken, was das Beste für unser Gemeinwesen ist, wie wir Nutzen mehren und Schaden von ihm wenden können.
Der Ausgang eines Experimentes ist immer ungewiß, und der Nutzen kann nur ein begrenzter sein. Deshalb sollten wir das Risiko einer Beschädigung höher bewerten. Deshalb bitte ich Sie alle: Bedenken Sie die Gefahr, daß das Vertrauen zu vieler Mitbürger in die Würde unserer demokratischen Geschichte und Kultur Schaden nehmen könnte. Stimmen Sie mit mir und der großen Mehrheit meiner Fraktion einer Verhüllung des Reichstags nicht zu!