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Rüdiger Voigt

Politische Symbolik und postnationale Identität

NSDAP-Parteitag 1936
© Ullstein Bilderdienst

    "In solchen Symbolen [wie dem Reichstag] bündeln sich wie in einem Brennglas die historischen Erfahrungen eines Volkes. Es sind ruhende Pole, Achsen, um die das Mit- und Gegeneinander der politischen Kräfte über Jahrzehnte kreist. Insofern verbinden sie ein Volk auch und gerade im Widerstreit der Interessen, der Ziele und der Überzeugungen. In solchen Symbolen kann sich die innere Einheit eines Volkes verkörpern. Die ganze staatliche Gesellschaft soll sich in solchen Symbolen wiederfinden können."
    (Wolfgang Schäuble in der in diesem Server dokumentierten Bundestagsdebatte am 25. Februar 1994).

    "Wenn einst Leopold von Ranke jede Epoche unmittelbar zu Gott sah, damit ihr individuelle, historische Gerechtigkeit werde, so ist heute im gängigen politischen Geschichtsbewußtsein der Deutschen jede Epoche unmittelbar zu Hitler. Das übermächtige historische Feindbild sperrt den positiven Zugang zur deutschen Geschichte, verbietet die unbefangene Identifikation des Deutschen mit der Vergangenheit seines Volkes und verwehrt ihm, sich selbst ohne weiteres als Kind und Erbe dieses Volkes zu akzeptieren."
    (Isensee 1986: 13).

    In der deutschen Vergangenheit sind politische Symbole häufig dazu eingesetzt worden, Staatstreue und nationale Identität zu erzeugen und zu festigen. Reichsinsignien und Fahnen, Siegesfeiern und Heldengedenktage, aber auch Denkmäler und Bauwerke dienten dazu, den Deutschen Nation und Staat näher zu bringen. Wie das Brandenburger Tor ist auch der Reichstag eines dieser symbolträchtigen Bauwerke, die für die nationale Identität der Deutschen von besonderer Bedeutung waren und es für manche auch heute noch sind. Kaiserverehrung oder Führerkult verstärkten die Wirkung dieser Symbolik im Zweiten und Dritten Reich noch, verkörperte die Person an der Spitze doch symbolhaft die Einheit von Staat und Nation. Dabei spielte angesichts der vielfältigen und schmerzhaften Brüche in der deutschen Geschichte die Beschwörung der Vergangenheit stets eine bedeutende Rolle. Konnten die Hohenzollernkaiser immerhin an das Heilige Römische Reich deutscher Nation und dessen Kaisermythos anknüpfen, so griff Hitler auf die urgermanische Sagenwelt zurück, ohne allerdings darauf zu verzichten, auch die preußische Tradition für sich in Anspruch zu nehmen. Fand der staatlich verordnete Germanenkult seinen Ausdruck im Runengebrauch und in den Sonnenwendfeiern des Dritten Reichs, so wurde der Preußenmythos mit der Glorifizierung des Alten Fritz - auf Briefmarken, Plakaten und in Kinofilmen - ebenso in Gebrauch genommen wie die Bismarckverehrung der Deutschen. Symptomatisch für die Beschwörung der Vergangenheit zu politischen Zwecken war der "historische Händedruck" des greisen Reichspräsidenten von Hindenburg in der Uniform des Generalfeldmarschalls, der er als "Sieger von Tannenberg" im Ersten Weltkrieg gewesen war, mit dem "böhmischen Gefreiten" Adolf Hitler, der sich anschickte, als soeben ernannter Reichskanzler zunächst Deutschland und dann die Welt zu erobern.

  1. Mißbrauch politischer Symbolik
  2. Nach dem Ende des "Großdeutschen Reichs" mit seiner bombastischen Symbolik der blutroten Hakenkreuzfahnen, der SS-Standarten und Totenkopfembleme, seinen Aufmärschen zu Reichsparteitagen und Heldengedenktagen, seinen überdimensionalen Bauwerken und Skulpturen hat es jede politische Symbolik in einem demokratischen Deutschland schwer. Symbole sind bekanntlich codierte Signale, deren Sinn nur der versteht, der den Code entschlüsseln kann. Zu sozialen Symbolen werden sie durch ihren gesellschaftlichen Gebrauch und durch ihre Instrumentalisierung für politische Ziele zu politischen Symbolen. Die Nazis haben für ihre Zwecke nicht nur eigene, sondern auch fremde Symbole instrumentalisiert und damit gewissermaßen "verbraucht". Farben, Symbole und Rituale der Arbeiterbewegung gehören dazu ebenso wie Versatzstücke religiöser und anderer Mythologien. Selbst Anklänge an die Operndramaturgie Richard Wagners sind stellenweise unverkennbar (Vondung 1971). Kann man solcherart verbrauchte oder zumindest doch verunreinigte Symbole überhaupt wieder "reinigen" und dann im alten oder in einem neuen Zusammenhang wiederverwenden?

    Seit Auschwitz schwingt zudem in jedem von den Nazis verwendeten Symbol auch die diabolische Seite, nämlich Mord, Völkermord und Holocaust, mit. Ein unbefangener Gebrauch zumindest dieser Symbole, vielleicht sogar von Symbolen überhaupt, für politische Zwecke verbietet sich daher von selbst. Der eigentliche Sinn der Verwendung von politischer Symbolik, nämlich Gemeinsamkeit herzustellen, indem auf dem Umweg über das Ritual die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft wird, wird damit zweifelhaft. An welche Vergangenheit soll angeknüpft werden, und kann bzw. darf dieser Vorgang manipuliert werden? Kann man sich eine "passende" Vergangenheit schaffen, an die dann anzuknüpfen wäre? Daß jede Gesellschaft eine Brücke zur eigenen Vergangenheit braucht, belegen die vielfältigen Zeugnisse der Vergangenheitsbeschwörung auch in anderen Ländern. Was wäre der Staat Israel ohne die im Alten Testament bezeugte Geschichte der jüdischen Stämme? Was wäre Japan ohne den Samurai-Mythos und China ohne die alten Kaiser-Dynastien? Was wäre Frankreich ohne die glorreiche Geschichte der "Grande Nation"? Der Arc de Triomphe in Paris steht als Symbol für diese Geschichte.

  3. Umgang mit der Vergangenheit
  4. Da Geschichte offenbar eine besondere Rolle bei der "Selbstvergewisserung einer Nation" (Habermas) spielt, liegt der Gedanke nahe, daß Historiker bei dem Umgang mit der Vergangenheit zu Schlüsselfiguren werden. Geschichtsschreibung kann als Medium dazu dienen, einem Volk das Bewußtsein der eigenen unverwechselbaren Identität, unter Umständen sogar der Überlegenheit gegenüber den Nachbarn, zu geben. Vor allem im 19. Jahrhundert sorgte der Historismus für die Gestaltung einer zu Nation und Nationalstaat "passenden" Vergangenheit, wobei die objektive historische Wahrheit eine eher untergeordnete Rolle spielte. Stellten die einen vor allem gewonnene Schlachten und Kriege in den Vordergrund, mit deren Hilfe die eigene Nation heroisiert werden sollte, so knüpften die anderen z.B. an eine große Entscheidungsschlacht, etwa gegen die Hunnen oder Türken, an, in der die Nation

    - heldenhaft kämpfend - schließlich untergegangen war. Die Schlacht auf dem Amselfeld im Jahre 1389, in der das serbisch-bosnische Heer von den Türken vernichtend geschlagen wurde, ist hierfür ein Beispiel. Aus dieser Märtyrerlegende speist sich das serbische Nationalbewußtsein und nicht zuletzt der Anspruch der Serben auf den Kosovo.

    Geschichte wird so zur - eifersüchtig gehüteten - spezifischen nationalen Vergangenheit, die sich im einen Nationalstaat so, im anderen anders liest. Nachbarländer, die Grenzstreitigkeiten miteinander haben, sind davon besonders betroffen. Jede Seite stellt die Geschichte so dar, daß ihr Anspruch auf die umstrittenen Gebiete gerechtfertigt erscheint. Das gilt besonders für Schulbücher, in denen bis in die heutige Zeit hinein eine "einseitige Sicht" des historischen Geschehens vermittelt wurde, um die Schüler von vornherein auf die "einzig richtige Wahrheit" einschwören zu können. Als große Leistung ist daher die Arbeit der gemeinsamen Schulbuchkommission zu werten, in der deutsche und französische Historiker die Geschichte der deutsch-französischen Nachbarschaftsbeziehungen neu geschrieben haben. Nur so läßt sich im übrigen der Übergang von der "klassischen Erbfeindschaft" zwischen Deutschland und Frankreich zu einer deutsch-französischen Freundschaft verwirklichen(1). Noch schwieriger ist es, eine gemeinsame Sicht der Vergangenheit von Polen und Deutschen zu gewinnen. Zu sehr schmerzen die Wunden, die sich die Nachbarvölker gegenseitig geschlagen haben. Auch hier bedarf es zunächst eines Abschieds von liebgewordenen nationalistischen Gewohnheiten, nämlich die Geschichte in den Dienst der Nation zu stellen.

    Welche Schwierigkeiten der Bruch mit der Vergangenheit macht, zeigt allerdings nicht nur das deutsche Beispiel. Auch Rußland kommt von seiner stalinistischen Vergangenheit nicht los, wie jüngst die 50-Jahr-Feiern zum Sieg über Nazi-Deutschland gezeigt haben. Nach einem totalen moralischen Zusammenbruch des politischen Systems kann freilich unter Umständen ein Neubeginn durch Umdeutung der Vergangenheit ermöglicht werden. Das Nachkriegsfrankreich bietet hierfür ein anschauliches Beispiel. So wie ein großer Teil der Deutschen nach Beendigung der Nazidiktatur "es nicht gewesen sein" wollte, definierte sich die französische Gesellschaft nun kollektiv als eine einzige umfassende Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer. Die zahllosen kleinen und großen Kollaborateure wurden als "unbedeutende Minderheit" schnell und gründlich bestraft. Auf diese Weise wurde für Frankreich ein neues geistiges Fundament gelegt, das auf dem Resistance-Mythos gründete. Vor allem die Staatspräsidenten de Gaulle und - später - Mitterand haben wesentlich zu diesem Staatsverständnis beigetragen, obwohl letzterer angesichts erdrückender Beweise schließlich einräumen mußte, selbst ein Beamter des Vichy-Regimes, wenn nicht mehr, gewesen zu sein. Gerade in der Biographie Mitterands wird die wechselvolle Geschichte Frankreichs und das merkwürdig ambivalente Verhältnis der Völker zueinander sinnfällig.

  5. Bildung einer kollektiven Identität
  6. Besonders in Zeiten einer Bedrohung von außen wird deutlich, daß jede Gesellschaft eines gewissen Gemeinschaftsgefühls bedarf, das den Menschen hilft, die Gefahr zu meistern, ohne zu verzweifeln. Großbritannien ist hierfür ein Beispiel, das sich trotz eines durch seine V-Raketen übermächtig erscheinenden deutschen Gegners auch nach der Niederlage von Dünkirchen im Sommer 1940 nicht selbst aufgab. Aus psychologischer Sicht könnte man in diesem Fall von einer kollektiven Identität der Nation sprechen. So wie Individuen zur Selbstvergewisserung eine eigene, unverwechselbare Identität benötigen, die ihnen auch Krisenzeiten zu überstehen ermöglicht, brauchen offenbar auch Gesellschaften eine - kollektive - Identität. Ohne die Fähigkeit, in allen Lebenslagen eine zwanglose Ich-Identität hervorzubringen und zu erhalten, kann der einzelne nicht mit widersprüchlichen Situationen fertig werden, die u.a. tiefgreifende Veränderungen der eigenen Persönlichkeitsstruktur erfordern (Habermas 1976: 93). Aus der natürlichen Identität des Kindes wird durch die Verortung der eigenen Person in der sozialen Umwelt eine Rollenidentität, die mit ihrer Stabilität der Verhaltenserwartungen erst die Kontinuität der Ich-Identität ermöglicht. So können im Bedarfsfall neue Identitäten aufgebaut und durch Integration mit den überwundenen Identitäten zu einer unverwechselbaren Biographie "komponiert" werden. Dies setzt freilich die Existenz einer die individuellen Ich-Identitäten übergreifenden Identität der Gruppe voraus.

    Die Frage ist allerdings, wie eine solche kollektive Identität zustande kommt und wie diese zu einer nationalen Identität werden kann. Festzustehen scheint zumindest, daß Identitäten Konstrukte sind, die zum besseren Verständnis sonst nur schwer durchschaubarer Zusammenhänge dienen und daß sie dem geschichtlichen Wandel unterliegen (v. Thadden 1991: 496). In Deutschland ist die Bildung einer kollektiven Identität heute freilich nicht mehr durch den bloßen Rückgriff auf einen gemeinsamen Bestand an Traditionen möglich, die sich z.B. in symbolhaften Bauwerken wie dem Reichstag manifestieren. Vielmehr verbietet die "Kontamination" der deutschen Geschichte mit Hitlers Nationalsozialismus jede unbefangene Identifikation mit der Vergangenheit. Die Ablehnung des nationalsozialistischen Regimes gehört freilich als "tabuisiertes Element des Grundkonsenses" (Isensee 1986: 13) zu den geistigen Tragpfeilern der zweiten deutschen Republik. Man könnte dieses Phänomen - mit Isensee - auch als "Negativpatriotismus" bezeichnen. Seine Konsequenz besteht darin, daß nichts Überkommenes mehr selbstverständlich ist, sondern alle Werte, Normen und Konventionen unter ständigem Rechtfertigungszwang stehen. Tradition verliert damit seine identitätsstiftende Kraft. Es liegt auf der Hand, daß dies auch die politische Symbolik nicht unberührt läßt.

    Kollektive Identität muß daher im Nach-Hitler-Deutschland erst gemeinsam gefunden bzw. entworfen werden. So wie sich heute die Jugendlichen ihre Ich-Identität im sozialen Raum einer Gruppe von Gleichgesinnten in einer Art "Stil-Bastelei" (Jürgen Zinnecker) aus dem "Baukasten" vorhandener Symbole und Stile zusammenstellen, beteiligen sich die aktiven Mitglieder einer Gesellschaft auch - mehr oder weniger intensiv - an der Herstellung und am Entwerfen einer kollektiven Identität. Dabei kommt es - nach Habermas - zunächst weniger auf die inhaltliche Dimension, sondern vor allem auf die formalen Bedingungen des Zustandekommens und der Überprüfung dieser Identität an, in der sich alle Gesellschaftsmitglieder nicht nur wiedererkennen, sondern darüber hinaus auch achten können müssen (Habermas 1976: 107). Als unbelastete Größe bietet sich hierfür das Grundgesetz an, das - zumindest in der alten Bundesrepublik - im Laufe von vier Jahrzehnten eine einzigartige Zustimmung erreicht hat. Aus dem positiven Grundkonsens über die Verfassung könnte durchaus die für eine kollektive Identität erforderliche Integrationskraft erwachsen. In diesem Zusammenhang erscheint Hegels These, daß die moderne Gesellschaft im souveränen Verfassungsstaat ihre vernünftige Identität gefunden habe, erstaunlich aktuell.


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