NSDAP-Parteitag 1936
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"Wenn einst Leopold von Ranke jede Epoche unmittelbar zu Gott sah, damit ihr
individuelle, historische Gerechtigkeit werde, so ist heute im gängigen
politischen Geschichtsbewußtsein der Deutschen jede Epoche unmittelbar zu
Hitler. Das übermächtige historische Feindbild sperrt den positiven
Zugang zur deutschen Geschichte, verbietet die unbefangene Identifikation des
Deutschen mit der Vergangenheit seines Volkes und verwehrt ihm, sich selbst
ohne weiteres als Kind und Erbe dieses Volkes zu akzeptieren."
In der deutschen Vergangenheit sind politische Symbole häufig dazu
eingesetzt worden, Staatstreue und nationale Identität zu erzeugen und zu
festigen. Reichsinsignien und Fahnen, Siegesfeiern und Heldengedenktage, aber
auch Denkmäler und Bauwerke dienten dazu, den Deutschen Nation und Staat
näher zu bringen. Wie das Brandenburger Tor ist auch der Reichstag eines
dieser symbolträchtigen Bauwerke, die für die nationale
Identität der Deutschen von besonderer Bedeutung waren und es für
manche auch heute noch sind. Kaiserverehrung oder Führerkult
verstärkten die Wirkung dieser Symbolik im Zweiten und Dritten Reich noch,
verkörperte die Person an der Spitze doch symbolhaft die Einheit von Staat
und Nation. Dabei spielte angesichts der vielfältigen und schmerzhaften
Brüche in der deutschen Geschichte die Beschwörung der Vergangenheit
stets eine bedeutende Rolle. Konnten die Hohenzollernkaiser immerhin an das
Heilige Römische Reich deutscher Nation und dessen Kaisermythos
anknüpfen, so griff Hitler auf die urgermanische Sagenwelt zurück,
ohne allerdings darauf zu verzichten, auch die preußische Tradition
für sich in Anspruch zu nehmen. Fand der staatlich verordnete Germanenkult
seinen Ausdruck im Runengebrauch und in den Sonnenwendfeiern des Dritten
Reichs, so wurde der Preußenmythos mit der Glorifizierung des Alten Fritz
- auf Briefmarken, Plakaten und in Kinofilmen - ebenso in Gebrauch genommen wie
die Bismarckverehrung der Deutschen. Symptomatisch für die
Beschwörung der Vergangenheit zu politischen Zwecken war der "historische
Händedruck" des greisen Reichspräsidenten von Hindenburg in der
Uniform des Generalfeldmarschalls, der er als "Sieger von Tannenberg" im Ersten
Weltkrieg gewesen war, mit dem "böhmischen Gefreiten" Adolf Hitler, der
sich anschickte, als soeben ernannter Reichskanzler zunächst Deutschland
und dann die Welt zu erobern.
Seit Auschwitz schwingt zudem in jedem von den Nazis verwendeten Symbol auch
die diabolische Seite, nämlich Mord, Völkermord und Holocaust, mit.
Ein unbefangener Gebrauch zumindest dieser Symbole, vielleicht sogar von
Symbolen überhaupt, für politische Zwecke verbietet sich daher von
selbst. Der eigentliche Sinn der Verwendung von politischer Symbolik,
nämlich Gemeinsamkeit herzustellen, indem auf dem Umweg über das
Ritual die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft wird, wird damit
zweifelhaft. An welche Vergangenheit soll angeknüpft werden, und kann bzw.
darf dieser Vorgang manipuliert werden? Kann man sich eine "passende"
Vergangenheit schaffen, an die dann anzuknüpfen wäre? Daß jede
Gesellschaft eine Brücke zur eigenen Vergangenheit braucht, belegen die
vielfältigen Zeugnisse der Vergangenheitsbeschwörung auch in anderen
Ländern. Was wäre der Staat Israel ohne die im Alten Testament
bezeugte Geschichte der jüdischen Stämme? Was wäre Japan ohne
den Samurai-Mythos und China ohne die alten Kaiser-Dynastien? Was wäre
Frankreich ohne die glorreiche Geschichte der "Grande Nation"? Der Arc de
Triomphe in Paris steht als Symbol für diese Geschichte.
- heldenhaft kämpfend - schließlich untergegangen war. Die Schlacht
auf dem Amselfeld im Jahre 1389, in der das serbisch-bosnische Heer von den
Türken vernichtend geschlagen wurde, ist hierfür ein Beispiel. Aus
dieser Märtyrerlegende speist sich das serbische Nationalbewußtsein
und nicht zuletzt der Anspruch der Serben auf den Kosovo.
Geschichte wird so zur - eifersüchtig gehüteten - spezifischen
nationalen Vergangenheit, die sich im einen Nationalstaat so, im anderen anders
liest. Nachbarländer, die Grenzstreitigkeiten miteinander haben, sind
davon besonders betroffen. Jede Seite stellt die Geschichte so dar, daß
ihr Anspruch auf die umstrittenen Gebiete gerechtfertigt erscheint. Das gilt
besonders für Schulbücher, in denen bis in die heutige Zeit hinein
eine "einseitige Sicht" des historischen Geschehens vermittelt wurde, um die
Schüler von vornherein auf die "einzig richtige Wahrheit" einschwören
zu können. Als große Leistung ist daher die Arbeit der gemeinsamen
Schulbuchkommission zu werten, in der deutsche und französische Historiker
die Geschichte der deutsch-französischen Nachbarschaftsbeziehungen neu
geschrieben haben. Nur so läßt sich im übrigen der
Übergang von der "klassischen Erbfeindschaft" zwischen Deutschland und
Frankreich zu einer deutsch-französischen Freundschaft verwirklichen(1).
Noch schwieriger ist es, eine gemeinsame Sicht der Vergangenheit von Polen und
Deutschen zu gewinnen. Zu sehr schmerzen die Wunden, die sich die
Nachbarvölker gegenseitig geschlagen haben. Auch hier bedarf es
zunächst eines Abschieds von liebgewordenen nationalistischen
Gewohnheiten, nämlich die Geschichte in den Dienst der Nation zu
stellen.
Welche Schwierigkeiten der Bruch mit der Vergangenheit macht, zeigt allerdings
nicht nur das deutsche Beispiel. Auch Rußland kommt von seiner
stalinistischen Vergangenheit nicht los, wie jüngst die 50-Jahr-Feiern zum
Sieg über Nazi-Deutschland gezeigt haben. Nach einem totalen moralischen
Zusammenbruch des politischen Systems kann freilich unter Umständen ein
Neubeginn durch Umdeutung der Vergangenheit ermöglicht werden. Das
Nachkriegsfrankreich bietet hierfür ein anschauliches Beispiel. So wie ein
großer Teil der Deutschen nach Beendigung der Nazidiktatur "es nicht
gewesen sein" wollte, definierte sich die französische Gesellschaft nun
kollektiv als eine einzige umfassende Widerstandsbewegung gegen die deutschen
Besatzer. Die zahllosen kleinen und großen Kollaborateure wurden als
"unbedeutende Minderheit" schnell und gründlich bestraft. Auf diese Weise
wurde für Frankreich ein neues geistiges Fundament gelegt, das auf dem
Resistance-Mythos gründete. Vor allem die Staatspräsidenten de Gaulle
und - später - Mitterand haben wesentlich zu diesem Staatsverständnis
beigetragen, obwohl letzterer angesichts erdrückender Beweise
schließlich einräumen mußte, selbst ein Beamter des
Vichy-Regimes, wenn nicht mehr, gewesen zu sein. Gerade in der Biographie
Mitterands wird die wechselvolle Geschichte Frankreichs und das merkwürdig
ambivalente Verhältnis der Völker zueinander sinnfällig.
Die Frage ist allerdings, wie eine solche kollektive Identität zustande
kommt und wie diese zu einer nationalen Identität werden kann.
Festzustehen scheint zumindest, daß Identitäten Konstrukte sind, die
zum besseren Verständnis sonst nur schwer durchschaubarer
Zusammenhänge dienen und daß sie dem geschichtlichen Wandel
unterliegen (v. Thadden 1991: 496). In Deutschland ist die Bildung einer
kollektiven Identität heute freilich nicht mehr durch den bloßen
Rückgriff auf einen gemeinsamen Bestand an Traditionen möglich, die
sich z.B. in symbolhaften Bauwerken wie dem Reichstag manifestieren. Vielmehr
verbietet die "Kontamination" der deutschen Geschichte mit Hitlers
Nationalsozialismus jede unbefangene Identifikation mit der Vergangenheit. Die
Ablehnung des nationalsozialistischen Regimes gehört freilich als
"tabuisiertes Element des Grundkonsenses" (Isensee 1986: 13) zu den geistigen
Tragpfeilern der zweiten deutschen Republik. Man könnte dieses
Phänomen - mit Isensee - auch als "Negativpatriotismus" bezeichnen. Seine
Konsequenz besteht darin, daß nichts Überkommenes mehr
selbstverständlich ist, sondern alle Werte, Normen und Konventionen unter
ständigem Rechtfertigungszwang stehen. Tradition verliert damit seine
identitätsstiftende Kraft. Es liegt auf der Hand, daß dies auch die
politische Symbolik nicht unberührt läßt.
Kollektive Identität muß daher im Nach-Hitler-Deutschland erst
gemeinsam gefunden bzw. entworfen werden. So wie sich heute die Jugendlichen
ihre Ich-Identität im sozialen Raum einer Gruppe von Gleichgesinnten in
einer Art "Stil-Bastelei" (Jürgen Zinnecker) aus dem "Baukasten"
vorhandener Symbole und Stile zusammenstellen, beteiligen sich die aktiven
Mitglieder einer Gesellschaft auch - mehr oder weniger intensiv - an der
Herstellung und am Entwerfen einer kollektiven Identität. Dabei kommt es -
nach Habermas - zunächst weniger auf die inhaltliche Dimension, sondern
vor allem auf die formalen Bedingungen des Zustandekommens und der
Überprüfung dieser Identität an, in der sich alle
Gesellschaftsmitglieder nicht nur wiedererkennen, sondern darüber hinaus
auch achten können müssen (Habermas 1976: 107). Als unbelastete
Größe bietet sich hierfür das Grundgesetz an, das - zumindest
in der alten Bundesrepublik - im Laufe von vier Jahrzehnten eine einzigartige
Zustimmung erreicht hat. Aus dem positiven Grundkonsens über die
Verfassung könnte durchaus die für eine kollektive Identität
erforderliche Integrationskraft erwachsen. In diesem Zusammenhang erscheint
Hegels These, daß die moderne Gesellschaft im souveränen
Verfassungsstaat ihre vernünftige Identität gefunden habe,
erstaunlich aktuell.
(Isensee 1986: 13).