hide random home http://www.kulturbox.de/christo/buch/voigt3.htm (Einblicke ins Internet, 10/1995)

KULTURBOX

Virtuelles Parlament
Alle Texte © 1995 KULTURBOX


Seite 3 von 3

Rüdiger Voigt

Politische Symbolik und postnationale Identität

1969
Foto: Klaus Lehnartz/© Ullstein Bilderdienst

7. Abschied vom Nationalstaat?

Dies alles deutet auf eine nach wie vor ungebrochene Bedeutung von Nation und Nationalismus hin, die jedoch vor allem in der außen- und wirtschaftspolitischen Realität immer weniger eine Entsprechung findet (Voigt 1993: 191). Weder die innere noch die äußere Souveränität der westeuropäischen Nationalstaaten sind unbestritten. Auf militärischem Gebiet war die Wahrung der gemeinsamen äußeren Souveränität für den Westen im Zeichen des Ost-West-Konflikts nur im Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems, der NATO, d.h. unter Aufgabe eines Teils der einzelstaatlichen Souveränität möglich. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben - spätestens seit dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages - einen großen Teil ihrer nationalen Zuständigkeiten an die Union abgetreten. Zwänge der Weltwirtschaft und der internationalen Geldmärkte schränken den Handlungsspielraum der meisten Staaten so gravierend ein, daß von nationaler Selbstbestimmung wenig übrig bleibt. Der Nationalstaat als Schicksalsgemeinschaft der Nation ist offenbar - zumindest in Europa - heute eher eine Fiktion. Und dennoch setzen auch die kleinen Völker in Ost-, Mittel- und Südosteuropa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion alles daran, ihren eigenen Nationalstaat durchzusetzen, ganz gleich ob dieser wirtschaftlich lebensfähig ist oder nicht.

Die Deutschen schienen sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst für den entgegengesetzten Weg entschieden zu haben. Beide deutschen Staaten begannen, im Zuge der jahrzehntelangen Trennung voneinander getrennte Identitäten auszubilden, die beide über die deutsche Nation als Bezugspunkt hinauswiesen. Während die DDR-Führung gezielt darauf hinarbeitete, auf ihrem Territorium die erste sozialistische Nation zu etablieren, richtete sich das Identitätsstreben in der alten Bundesrepublik einerseits auf die engere Heimat, die Region oder das Heimatdorf, andererseits auf Europa. In Westdeutschland wurde es in bestimmten Kreisen chic, sich auf Nachfrage nicht mehr als Deutscher, sondern als Europäer zu bezeichnen. Auf diese Weise entging man nicht zuletzt der lästigen Frage nach der Mitschuld oder doch Mitverantwortung für die Naziverbrechen. Allenfalls bei Fußballweltmeisterschaften fühlte man mit der (bundes-)deutschen Mannschaft und war ggf. stolz auf den Sieg. Und die Bild-Zeitung fand Zustimmung, wenn sie bei den olympischen Spielen die west- und ostdeutschen Medaillen zusammenzählte. Ganz allmählich entwickelte sich nicht nur bei den Jüngeren so etwas wie eine "bundesrepublikanische Identität".

Je weiter sich die junge Generation - zeitlich und gedanklich - vom Kriegsende entfernte, desto stärker fühlten sich die einen als Bundesbürger den Franzosen, Italienern oder Engländern verbunden, während die anderen im Land des "real existierenden Sozialismus" - gezwungenermaßen - ihre Freunde bei den sozialistischen Brudervölkern suchten. Die Deutschen in Ost und West wurden sich, selbst wenn es Verwandte waren, immer fremder, das gemeinsame Band der Zugehörigkeit zur deutschen Nation schien immer dünner zu werden. Viele zeitgenössische Beobachter schlossen daraus, daß aus der deutschen Kulturnation niemals wieder eine Staatsnation werden würde, ja daß dies sozusagen die gerechte Strafe für die Naziverbrechen sei. Hatte sich nach der unglücklichen, ohnehin nur 75 Jahre dauernden Episode des deutschen Nationalstaates nicht überhaupt die kulturelle Identität der Deutschen von der einheitsstaatlichen Organisationsform gelöst - wie früher schon im Falle Österreichs (Habermas 1987: 168)?

8. Nationale oder postnationale Identität?

Müßte damit nicht an die Stelle der nationalen die postnationale Identität treten? Und wenn ja, wie würde eine solche neue, vom Nationalstaat gelöste "posttraditionale" oder "reflexive" Identität aussehen können? Es ist sicher kein Zufall, daß sich die Befürworter einer wie immer gearteten postnationalen Identität auf eine Denkfigur Dolf Sternbergers stützen, nämlich die des Verfassungspatriotismus (Sternberger 1982/1990: 17 ff.). Sternberger geht davon aus, daß Patriotismus nicht an ein spezifisches Nationalgefühl gebunden sein müsse, sondern auch als außer-nationale Vaterlandsliebe verstanden werden könne. Freilich gehe es dabei weniger um eine kritische Auseinandersetzung, als vielmehr um eine fraglose Identifizierung mit dem politischen Gemeinwesen und seiner Verfassung. Damit ist jedoch nicht so sehr der Text der geschriebenen Verfassung, sondern die gelebte Verfassung, d.h. die in einem konkreten Staat praktizierte politisch-moralische Wertordnung und letztlich die Bindung an die freiheitlich demokratische Ordnung, gemeint.

Habermas geht daher - konsequenterweise - davon aus, daß diese postnationale Identität nicht auf ein bestimmtes Territorium, sondern auf eine staatenübergreifende Gemeinschaft bezogen sein muß. Sie wurzele "im Bewußtsein allgemeiner und gleicher Chancen der Teilnahme an solchen Kommunikationsprozessen ..., in denen Identitätsbildung als kontinuierlicher Lernprozeß stattfindet" (Habermas 1976: 116). Diese postnationale Identität sei reflexiv, inhaltlich kaum präjudiziert, und sie sei vor allem jederzeit revisionsfähig. Sie bilde sich nicht auf der Grundlage von Traditionen, sondern "in kritischer Erinnerung an die Tradition". Damit skizziert Habermas in seinen Überlegungen zu der Frage, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können, ein höchst anspruchsvolles Konzept der Bildung einer neuen kollektiven Identität der Deutschen.

Die Verhüllung des Reichstages paßt nahtlos in dieses Konzept, regt sie doch gerade zur kritischen Auseinandersetzung mit der mit diesem symbolhaften Bauwerk verbundenen Tradition an. Die Frage bleibt allerdings offen, ob sich die Deutschen angesichts des durch die deutsche Vereinigung signalisierten Neuanfangs, der von vielen als "Befreiung" von der ständigen Erinnerung an die schuldbeladene Vergangenheit empfunden wird, dieser Aufgabe gewachsen zeigen. Viel hängt davon ab, ob es gelingt, den Ostdeutschen das bei den Westdeutschen in vierzig Jahren gewachsene Vertrauen in den Rechtsstaat, das Sternbergers Vorstellungen von einem "Verfassungspatriotismus" zumindest sehr nahe kommt, zu vermitteln. Angesichts der zahllosen Enttäuschungen, die ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger mit dem Wirtschafts-, Justiz- und Parteiensystem der alten Bundesrepublik erlebt haben, ist Skepsis angebracht. Der Verdacht liegt nahe, daß es eher eine Sache von elitären Zirkeln sein wird, über die neue postnationale Identität nachzudenken, während die große Zahl der Deutschen diesem Konzept eher gleichgültig gegenübersteht und sich eine mehr oder weniger große Minderheit in einer weniger anspruchsvollen nationalen Identität mit ihrer eingängigen politischen Symbolik heimisch fühlt.

Dahrendorf bezeichnet eine solche - konstruierte - postnationale Identität, die nur auf die Verfassung abstellt, als "Kopfgeburt", die allein kaum für die erforderliche Tiefenbindung an den Nationalstaat sorge (Dahrendorf 1994: 757). Offenbar muß Weiteres hinzukommen. Denn eines ist sicher: Der Mensch ist nicht nur ein vernunftbegabtes, sondern auch ein gefühlsbegabtes Wesen. Die nüchternen Verfassungsnormen allein können den ungestillten "Gemüts- und Religionsbedarf" der Deutschen (Isensee) sicher nicht auf Dauer befriedigen. Nach einer Periode schlimmster nationaler Selbstüberschätzung und nach einer Periode nationaler Selbstverleugnung müssen die Deutschen wieder zu sich selbst finden, indem sie - bei aller gebotenen Bescheidenheit - zu einer ihrer selbst bewußten kollektiven Identität finden, die ihnen einen gelasseneren Umgang auch mit ökonomischen und politischen Krisen ermöglicht. Der französische Historiker Fernand Braudel hat auf seiner Suche nach der Identität Frankreichs dazu Formulierungen gefunden, die - ohne Abstriche - auch auf die deutsche Situation anwendbar sind:

"Eine Nation kann nur existieren, wenn sie sich unablässig selber sucht, sich im Sinne ihrer eigenen logischen Entwicklung transformiert, sich gegenüber anderen unermüdlich zur Wehr setzt, sich mit dem Besten und Wesentlichsten, über das sie verfügt, identifiziert, sich also in Markenzeichen und Losungsworten wiedererkennt, die allen Eingeweihten bekannt sind."
(Braudel 1989: 17, übersetzt nach v. Thadden 1991: 494)


    (1)Hierzu trugen selbstverständlich auch andere Faktoren, wie z. B. das (sehr erfolgreiche) deutsch-französische Jugendwerk bei.

Literaturverzeichnis


Zurück Index
© 1995 KULTURBOX