1969
Foto: Klaus Lehnartz/© Ullstein Bilderdienst
Die Deutschen schienen sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst für den entgegengesetzten Weg entschieden zu haben. Beide deutschen Staaten begannen, im Zuge der jahrzehntelangen Trennung voneinander getrennte Identitäten auszubilden, die beide über die deutsche Nation als Bezugspunkt hinauswiesen. Während die DDR-Führung gezielt darauf hinarbeitete, auf ihrem Territorium die erste sozialistische Nation zu etablieren, richtete sich das Identitätsstreben in der alten Bundesrepublik einerseits auf die engere Heimat, die Region oder das Heimatdorf, andererseits auf Europa. In Westdeutschland wurde es in bestimmten Kreisen chic, sich auf Nachfrage nicht mehr als Deutscher, sondern als Europäer zu bezeichnen. Auf diese Weise entging man nicht zuletzt der lästigen Frage nach der Mitschuld oder doch Mitverantwortung für die Naziverbrechen. Allenfalls bei Fußballweltmeisterschaften fühlte man mit der (bundes-)deutschen Mannschaft und war ggf. stolz auf den Sieg. Und die Bild-Zeitung fand Zustimmung, wenn sie bei den olympischen Spielen die west- und ostdeutschen Medaillen zusammenzählte. Ganz allmählich entwickelte sich nicht nur bei den Jüngeren so etwas wie eine "bundesrepublikanische Identität".
Je weiter sich die junge Generation - zeitlich und gedanklich - vom Kriegsende entfernte, desto stärker fühlten sich die einen als Bundesbürger den Franzosen, Italienern oder Engländern verbunden, während die anderen im Land des "real existierenden Sozialismus" - gezwungenermaßen - ihre Freunde bei den sozialistischen Brudervölkern suchten. Die Deutschen in Ost und West wurden sich, selbst wenn es Verwandte waren, immer fremder, das gemeinsame Band der Zugehörigkeit zur deutschen Nation schien immer dünner zu werden. Viele zeitgenössische Beobachter schlossen daraus, daß aus der deutschen Kulturnation niemals wieder eine Staatsnation werden würde, ja daß dies sozusagen die gerechte Strafe für die Naziverbrechen sei. Hatte sich nach der unglücklichen, ohnehin nur 75 Jahre dauernden Episode des deutschen Nationalstaates nicht überhaupt die kulturelle Identität der Deutschen von der einheitsstaatlichen Organisationsform gelöst - wie früher schon im Falle Österreichs (Habermas 1987: 168)?
Habermas geht daher - konsequenterweise - davon aus, daß diese postnationale Identität nicht auf ein bestimmtes Territorium, sondern auf eine staatenübergreifende Gemeinschaft bezogen sein muß. Sie wurzele "im Bewußtsein allgemeiner und gleicher Chancen der Teilnahme an solchen Kommunikationsprozessen ..., in denen Identitätsbildung als kontinuierlicher Lernprozeß stattfindet" (Habermas 1976: 116). Diese postnationale Identität sei reflexiv, inhaltlich kaum präjudiziert, und sie sei vor allem jederzeit revisionsfähig. Sie bilde sich nicht auf der Grundlage von Traditionen, sondern "in kritischer Erinnerung an die Tradition". Damit skizziert Habermas in seinen Überlegungen zu der Frage, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können, ein höchst anspruchsvolles Konzept der Bildung einer neuen kollektiven Identität der Deutschen.
Die Verhüllung des Reichstages paßt nahtlos in dieses Konzept, regt sie doch gerade zur kritischen Auseinandersetzung mit der mit diesem symbolhaften Bauwerk verbundenen Tradition an. Die Frage bleibt allerdings offen, ob sich die Deutschen angesichts des durch die deutsche Vereinigung signalisierten Neuanfangs, der von vielen als "Befreiung" von der ständigen Erinnerung an die schuldbeladene Vergangenheit empfunden wird, dieser Aufgabe gewachsen zeigen. Viel hängt davon ab, ob es gelingt, den Ostdeutschen das bei den Westdeutschen in vierzig Jahren gewachsene Vertrauen in den Rechtsstaat, das Sternbergers Vorstellungen von einem "Verfassungspatriotismus" zumindest sehr nahe kommt, zu vermitteln. Angesichts der zahllosen Enttäuschungen, die ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger mit dem Wirtschafts-, Justiz- und Parteiensystem der alten Bundesrepublik erlebt haben, ist Skepsis angebracht. Der Verdacht liegt nahe, daß es eher eine Sache von elitären Zirkeln sein wird, über die neue postnationale Identität nachzudenken, während die große Zahl der Deutschen diesem Konzept eher gleichgültig gegenübersteht und sich eine mehr oder weniger große Minderheit in einer weniger anspruchsvollen nationalen Identität mit ihrer eingängigen politischen Symbolik heimisch fühlt.
Dahrendorf bezeichnet eine solche - konstruierte - postnationale Identität, die nur auf die Verfassung abstellt, als "Kopfgeburt", die allein kaum für die erforderliche Tiefenbindung an den Nationalstaat sorge (Dahrendorf 1994: 757). Offenbar muß Weiteres hinzukommen. Denn eines ist sicher: Der Mensch ist nicht nur ein vernunftbegabtes, sondern auch ein gefühlsbegabtes Wesen. Die nüchternen Verfassungsnormen allein können den ungestillten "Gemüts- und Religionsbedarf" der Deutschen (Isensee) sicher nicht auf Dauer befriedigen. Nach einer Periode schlimmster nationaler Selbstüberschätzung und nach einer Periode nationaler Selbstverleugnung müssen die Deutschen wieder zu sich selbst finden, indem sie - bei aller gebotenen Bescheidenheit - zu einer ihrer selbst bewußten kollektiven Identität finden, die ihnen einen gelasseneren Umgang auch mit ökonomischen und politischen Krisen ermöglicht. Der französische Historiker Fernand Braudel hat auf seiner Suche nach der Identität Frankreichs dazu Formulierungen gefunden, die - ohne Abstriche - auch auf die deutsche Situation anwendbar sind:
"Eine Nation kann nur existieren, wenn sie sich unablässig selber sucht,
sich im Sinne ihrer eigenen logischen Entwicklung transformiert, sich
gegenüber anderen unermüdlich zur Wehr setzt, sich mit dem Besten und
Wesentlichsten, über das sie verfügt, identifiziert, sich also in
Markenzeichen und Losungsworten wiedererkennt, die allen Eingeweihten bekannt
sind."
(Braudel 1989: 17, übersetzt nach v. Thadden 1991: 494)
Dahrendorf, Ralf 1994: Die Zukunft des Nationalstaates, in: Merkur, 48. Jg., H. 9/10: 751-761
Habermas, Jürgen 1987: Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik, in: Ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/M. 1987: 159-179
Habermas, Jürgen 1976: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: Ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976: 92-126
Ignatieff, Michael 1993: Blood and Belonging. Journeys into the new nationalism, London
Isensee, Josef 1986: Die Verfassungs als Vaterland. Zur Staatsverdrängung der Deutschen. In: Armin Mohler (Hrsg.): Wirklichkeit als Tabu. Anmerkungen zur Lage, München 1986: 11-35
Sternberger, Dolf 1982: Verfassungspatriotismus. Rede bei der 25-Jahr-Feier der "Akademie für Politische Bildung", in: Ders., Verfassungspatriotismus. Schriften Bd. X, Frankfurt/M. 1990: 17-31
Thadden, Rudolf von 1991: Aufbau nationaler Identität. Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: Bernhard Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M.: 493-510
Voigt, Rüdiger 1993: Abschied vom Nationalstaat - Rückkehr zum Nationalstaat? In: Ders. (Hrsg.), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat?, Baden-Baden: 159-204
Vondung, Klaus 1971: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen