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Virtuelles Parlament
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Friedrich Dieckmann

Parlamentssymbolik

Christos Tücher und die deutsche Demokratie (1)

Die "Bushaltestelle" von Norman Foster
Foto: Antonia Weiße © Bundesbaudirektion Berlin

  1. Die Entscheidung
  2. Die Würfel sind gefallen, eine namentliche, vom Fraktionszwang freie Abstimmung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages hat mit einer Mehrheit von 69 Stimmen ergeben: Das einstige Reichstags- und künftige Bundestagsgebäude darf zwei Wochen lang von dem bulgarisch-amerikanischen Verpackungskünstler Christo von Kopf bis Fuß, von dem Rustika-Sockel bis zu den Spitzen der Portikus-Pylonen, in hellglänzendes Tuch gehüllt werden. Eine um ihr Überleben kämpfende und nach der Währungsunion von 2000 auf 200 Arbeiter herabgesetzte Cottbuser Textilfabrik hat Aussicht, den Auftrag zum Weben der riesigen Stoffbahnen zu erhalten; jedenfalls hat Christo versichert, er werde den Auftrag nach Brandenburg geben. (2) Er kann es sich leisten, das spektakuläre Projekt ganz aus Eigenem zu finanzieren; zu hohen Preisen werden seine druckgraphisch vervielfältigten Entwürfe, Zeichnungen, Modellfotos auf dem internationalen Kunstmarkt gehandelt.

    Ob es das deutsche Bundesparlament, und im weiteren Sinn die staatlich neukonstituierte deutsche Nation, sich leisten könne, das künftige Parlamentshaus, den Sitz höchster Volksrepräsentanz, dergestalt zum Gegenstand eines künstlerischen Verkleidungsspiels zu machen, ist in den letzten Jahren immer wieder und nun noch einmal in einer Bundestags-Sitzung erörtert worden. "So was tut man nicht!" rief am 25. Februar 1994 der SPD-Abgeordnete Eike Ebert den Befürwortern des Unternehmens zu und meinte, siebzig Prozent der Bevölkerung hätten "kein Verständnis" für ein solches Experiment. Zugleich erklärte er, seine Argumentation sei kein "Populismus". Es ist ein merkwürdiger rhetorischer Trick, das, was man äußert, für das Gegenteil dessen zu erklären, was man äußert.

    Die Rede dieses Verhüllungs-Gegners blieb nicht unwidersprochen; wie immer, wenn sich der Bundestag dazu entschließt, Debatte und Abstimmung vom Fraktionszwang freizusetzen, erklomm das Widerspiel der Auffassungen ein bemerkenswertes Niveau. Auch war der Parlamentssaal, in dem auch bei wichtigen Debatten oft gähnende Leere herrscht, dann nämlich, wenn der Fraktionszwang in Verbindung mit interfraktionellen Abreden alles schon vorher geregelt hat, bis in die hinteren Reihen hinein besetzt; jeder Abgeordnete spürte und wußte: es kam auf ihn an.

    Zuletzt war das bei der Hauptstadtentscheidung im Juni 1991 der Fall gewesen. Fast drei Jahre später hat Christos Projekt ein Zeichen gesetzt, dessen Wirkung nicht von dem Äußeren des Berlin Parlamentsbaues, sondern von dem Inneren des Bonner Bundestagsgebäudes ausging: ein volles Haus, in dem die Abgeordneten, der Bedeutung ihrer Entscheidung bewußt, qualifizierte Argumente austauschen. Das ist die exzentrische Ausnahme, obschon es die Regel sein sollte; denn die Abgeordneten, so bestimmt es Artikel 38 des Grundgesetzes, sind "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Zwar erklärt Artikel 21, daß "die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken". Daß diese, wie es festgefahrene Praxis ist, die Willensbildung des Parlaments bestimmen, indem sie den einzelnen Abgeordneten einer Fraktionsdisziplin unterwerfen, die ihn nötigt, sich dem Abstimmungsverhalten der Mehrheit seiner Fraktion anzuschließen, ist, recht besehen, verfassungswidrig, nicht dem Buchstaben des Grundgesetzes nach, der Auftrag und Weisung selbst nicht perhorresziert, aber seinem Geist.

    In der DDR und zuvor auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone war das Prinzip der Parteidisziplin in einer mehr als vierzigjährigen Geschichte das Hauptinstrument der Diktatur. Am Ausgangspunkt dieser Entwicklung standen die Landtagswahlen im Herbst 1946, bei denen die vereinigte Arbeiterpartei gegenüber den beiden bürgerlichen Parteien in den fünf östlichen Ländern, die nun wieder bestehen, eine ganz knappe Mehrheit erhielt. Aufgrund dieser Mehrheitsverhältnisse, die überall zu Allparteienregierungen führten, hat die SED dreiundvierzig Jahre lang regiert. Als 1949 die Gründung der Bundesrepublik bevorstand, schaffte sie mit Hilfe der Besatzungsmacht Parteienwahlen ab und sorgte dafür, daß ihre eigenen Mitglieder in allen Gremien, Körperschaften, Institutionen, in denen Abstimmungsentscheidungen stattfanden, immer in der Mehrzahl waren. Diese Mehrzahl von SED-Mitgliedern aber war einer eisernen Parteidisziplin unterworfen; so kam es, daß das Mehrparteiensystem politischer Schein wurde. Vermittels des Fraktionszwangs war faktisch die Einparteiendiktatur installiert.

  3. Ohne Fraktionszwang
  4. Eine solche Entwicklung ist in einem Staat, in dem die Bevölkerung in regelmäßigen Abständen nach konkurrierenden Parteienlisten über die Zusammensetzung des Parlaments entscheidet, nicht zu befürchten. Dieser Umstand sollte jedoch nicht den Blick für die Tatsache trüben, daß in dem Begriff und der Handhabung der Fraktionsdisziplin selbst ein widerdemokratisches Element liegt, das es einzugrenzen gälte. Daß es Gründe gibt, die die Rationalisierung rechtfertigen, die darin liegt, daß Fraktionsleitungen Arbeit und Stimmverhalten der Abgeordneten bündeln und koordinieren, darf nicht davon abhalten, das Verfahren selbst in seiner Fragwürdigkeit zu erkennen. Natürlich würde eine Überforderung der Abgeordneten, eine Überdehnung der Sitzungen eintreten, wenn man jede Abstimmung zum genauen Willensausdruck des Gesamtparlaments machen würde, statt, wie es geschieht, zum Ausdruck parteigesteuerter Fraktionsentscheidungen. Doch bleibt es bedenklich, daß eine Praxis für selbstverständlich gehalten wird, deren sinnfälliger Ausdruck die gähnende Leere normaler Bundesstagssitzungen ist. Im Blick auf das Christo-Projekt ist viel von Symbolwerten gesprochen worden; manche sahen die Würde des Parlaments durch die beabsichtigte Verhüllung des Berliner Gemäuers verletzt. Daß es eines solchen Vorhabens bedurfte, um den verfassungsmäßigen Souverän, der das ganze Volk ist, wieder einmal den Anblick eines gut besuchten Plenarsaals und einer von der autonomen Urteilsbildung des einzelnen Volksvertreters bestimmten Sitzung zu bieten, hat selbst symbolische Bedeutung; sie sollte zur Nachdenklichkeit anregen. Ein keineswegs linksstehender Soziologe, der Kölner Professor Erwin K. Scheuch, hat das Ergebnis seiner Untersuchungen über die politischen Funktionsmechanismen im Raum Köln in dem Begriff "Mehrparteiendiktatur" zusammengefaßt, nicht in polemischem Sinn, sondern zur Beschreibung eines Tatbestands, der in der von Parteiapparaten dirigierten Formalisierung und Instrumentalisierung politischer Willensbildung besteht. Eine Debatte wie die über das Christo-Projekt verweist auf die unerschlossenen Möglichkeiten eines unmittelbaren Parlamentarismus. Auch die im Parteienhader und Parteienkalkül festgefahrene Frage der Pflegeversicherung vertrüge eine von Fraktionszwang entlastete Parlamentsentscheidung. Dann würden vielleicht hier und da dem Wahlkampf ein paar Platzpatronen verlorengehen. Aber das Ansehen der parlamentarischen Demokratie würde gestärkt. Nichts ist wichtiger als dies.


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