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Virtuelles Parlament
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Friedrich Dieckmann

Parlamentssymbolik

Christos Tücher und die deutsche Demokratie (1)

3. Der Defekt

Zu den Argumenten, die gegen die Reichstagsumkleidung ins Feld geführt wurden, gehörte der Hinweis darauf, daß keine der klassischen Demokratien des Westens ihr Parlamentsgebäude dem weltumspannenden Verpackungskünstler ausgeliefert habe. Aber das war ein vorgeschobenes Argument, denn alle diese Parlamente arbeiten ja in den Häusern, die sie sich zum Sitz bestimmt haben; nicht so der Deutsche Bundestag. Vielleicht war dies der tiefere Grund der Abneigung, die viele Politiker dem Projekt entgegenbrachten: daß die Verhüllung aller Welt klarmachen würde, daß der Bundestag eben noch nicht in der deutschen Hauptstadt tagt. Er hat zwar Büros im alten Reichstagsgebäude, dessen Ruine in den fünfziger Jahren wiederaufgebaut wurde, aber die parlamentarische Arbeit findet mehr als vier Jahre nach der Herstellung der deutschen Staatseinheit immer noch am Rhein statt.

Erst 1993 haben die Abgeordneten dort ein neues, schönes Haus bezogen, in dem sie einander nur per Lautsprecher verstehen; als die Anlage ausfiel, mußten sie wieder ausziehen. Auch dieser Vorgang hatte Symbolwert für die Funktionsweise von Staat und Gesellschaft; der technische Fehler war ein Fingerzeig. Er ist viel beredet worden, ohne daß das eigentliche Problem hinlänglich zur Sprache gekommen wäre; es lag in der Tatsache, daß das Parlament sich einen Saal hatte bauen lassen, in dem ohne technische Krücken von hohem Aufwand und äußerster Komplikation ein Volksvertreter nicht mehr zu den anderen reden konnte. Auch hier hatte man sich einer Formalisierung und Technisierung unterworfen (das eine hängt mit dem andern zusammen), die die Substanz der parlamentarischen Arbeit erhörlich in Frage stellte. Ein Saal für gut sechshundert Leute, der so geformt ist, daß einer den andern nur mit Hilfe ausgeklügelter Computersteuerungen vernimmt, war offenbar von vornherein der falsche Saal. Man hätte den Siemens-Technikern dankbar sein müssen, daß ihre versagende Apparatur die Aufmerksamkeit auf diese Problematik gelenkt hatte. Aber sie kam fast gar nicht in Sicht. Alle, und am meisten der Architekt, sprachen nur von dem Beschämenden des technischen Defekts, nicht von dessen architektonischer Voraussetzung, die auf den wahren Defekt verwies.

So bleiben die Debatten leicht an der Oberfläche; diese bewegt sich dann um so heftiger. Als es in Berlin Unter den Linden um Schinkels alte Neue Wache ging, um jenes aus der Zeit nach den Napoleonischen Kriegen stammende Gebäude, das zu DDR-Zeiten als zentrale Gedenkstätte für die Opfer der Kriege und des Nazi-Terrors wiederaufgebaut worden war und in der vereinten Republik nun die gleiche Funktion versehen sollte, wurde ausladend über die Skulptur debattiert, die nach dem einsamen Entschluß des regierenden Kanzlers dem Totengedenken bildnerischen Anhalt geben sollte, eine den Raummaßen anzugleichende plastische Gruppe von Käthe Kollwitz aus dem Jahr 1937. Aber das Wie der künstlerischen Gestalt war eine Nebenfrage, und die Hauptfrage blieb außer Betracht: ob es einer Zentralen Gedenkstätte denn bedürfe; ob jene staatliche Zentralisierung des Opfer-Gedenkens, wie sie die DDR an dieser Stelle vollzogen hatte, für den neuen Staat, der sich national- und bundesstaatlich bestimmte, sinnvoll und erforderlich sei. Berühmte Gelehrte entfalteten ein Feuerwerk von Gründen, warum ihnen die Kollwitz-Skulptur an dieser Stelle ganz und gar unpassend erschien. Daß man das Eingedenken an die unfaßbare Zahl ganz verschiedener und auch im Tode nicht gleicher Opfer des deutschen Imperialismus von Staats wegen zentralisieren müsse, war den Geschichtskennern nicht eingefallen in Frage zu stellen.

4. Der Umgang mit Geschichte

Es ist fast gesetzmäßig: Je angelegentlicher die Symbol-Diskussionen geführt werden, um so tiefer liegt die Argumentationsebene. So auch beim Wallotbau. Wenn der Bundestag dort schon arbeitete oder der Umbau im Gange wäre, hätte der einfallsreiche Bulgare seinen verspielten Plan längst ad acta gelegt. Daß dies noch nicht der Fall ist, war seine Chance; zugleich ist es die des Gebäudes selbst und seiner Nutzer. Denn die Verhüllung, die leicht und glänzend aussehen wird, gibt die ästhetische Möglichkeit, jene geschichtliche Zäsur zu markieren, die zwischen der künftigen und der einstigen Nutzung des Bauwerks liegt, der einstigen Nutzung durch die Volksvertreter des zugrunde gegangenen Deutschen Reiches und der künftigen Nutzung durch die Abgeordneten der neuen deutschen Republik. In den Jahren l930-32 wurde dieser von dem Architekten Wallot errichtete Palast des Parlamentarismus zum Ort folgenschwerer Niederlagen der parlamentarischen Demokratie; ein konstitutiver Fehler der Reichsverfassung und dessen skrupellose Ausnutzung durch den wenige Monate zuvor gegen Hitler wiedergewählten Reichstagspräsidenten v. Hindenburg führte dann im Januar 1933 dazu, daß ein von keiner Reichstagsmehrheit gestützter Parteiführer zum Kanzler ernannt wurde, der sich offen als Staatsfeind, als Feind der demokratischen Verfassung, bekannte.

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Vereinigung, daß in den Städten und Dörfern des östlichen Deutschlands zwar allerorten die Thälmann- und Pieck- und Zetkin-Straßen umbenannt werden, daß aber im westlichen Deutschland und westlichen Berlin kein einziges politisches Gremium Anstalten macht, die ungezählten Straßen und Plätze umzubenennen, die den Namen dieses präsidentalen Totengräbers des Deutschen Reiches tragen. Ist die deutsche Einheit auf einem Auge blind? Auch auf diesem Feld verschenkt die Oberflächlichkeit der Betrachtung die wahre Dimension der Probleme. Nach dem Maß, das die Umbenennungswillkür der SED einst vorgab, betreibt man mit Straßennamen Geschichtspolitik und bemerkt über dem Splitter im Auge des andern nicht den Balken im eigenen Auge.

Zwischen die katastrophenbeladene alte und die hoffnungsvolle neue Nutzung des auf eine wuchtige Weise schönen Wallotbaus werden sich die hell schimmernden Christo-Tücher als ein spielerisch-heiteres lntermezzo legen; sie sind wie ein Symbol für die Hoffnungen, die die vereinte Nation mit dem Einzug des Parlaments in dieses Kastell der Volksrepräsentanz verbindet. Daß die Mehrheit des Bundestags sich in einer Summe freier Einzelentscheidungen dazu entschloß, das Kunstprojekt in dieser Bedeutung zu erfassen und jene Fehldeutungen abzuwehren, die das Vorhaben als eine Negierung geschichtlicher Würde verkannten, ist als Vorgang wie als Resultat ermutigend. Indem der neue Staat sich der Kunst nicht verschließt, stellt er sich selbst ein Reifezeugnis aus. So wird die Entscheidung selbst zu einem Symbol der Staatsklugheit, ja des Staatsvergnügens, im weiten Sinn des Wortes.

5. Gewand-Haus statt Bushaltestelle

Christos Tücher werden 1995 das schwärzliche Mauerwerk nach vierzehn Tagen wieder freigeben. Das unterscheidet sie von dem immensen Glasdach, mit dem der preisgekrönte Entwurf eines Londoner Architekten das Bauwerk deckeln wollte; diese Verkleidung wäre das Gebäude so schnell nicht wieder losgeworden. Sie hätte den Staat, also die Bürger, mehr als eine Milliarde Mark gekostet und wurde trotzdem preisgekrönt. Als sich herausstellte, was von vornherein klar war: daß kein Geld für eine Architektur-Vision da war, die dem Bauwerk das Aussehen einer gigantischen Bushaltestelle gegeben hätte, bekam der Baumeister, der so eklatant übers Ziel hinausgeschossen war, dennoch den Auftrag. Es ging im Ganzen so: Jene Architekten, die die Vorgaben des Wettbewerbs spektakulär übergangen hatten, fanden sich von einer effektversessenen Jury in die erste Reihe gestellt; andere, welche unsinnigen Aufwand vermieden hatten, sahen sich im hinteren Glied des Klassements.

Die Realität selbst berichtigt die Großmannssucht selbstherrlicher Gremien, selbstverliebter Instanzen; nicht auf dem Weg der Voraussicht, sondern unter dem Zwang der Verhältnisse greift das Maßvolle Raum. Kostbare Zeit wird auf solchen Umwegen vertan. Eine Umzugslösung, wie sie der Haushaltausschuß des Bundestages jetzt nahelegt, mit starker Beschränkung von Regierungs-Neubauten angesichts der Tatsache, daß in Berlin ja für Ministerien viel Raum vorhanden ist, wäre schon 1991 möglich gewesen. Mit gewaltigen Planungen, ausladenden Wettbewerben suchte man der Tatsache zu entkommen, daß es mit der deutschen Einheit Ernst zu machen gälte: durch den raschen Umzug der Staats-Institutionen. Was man nicht rechtzeitig aus Einsicht tut, vollzieht sich nachmals unter dem Druck der Notwendigkeit. Vielleicht sind solche Umwege nötig; das Gesetz der Trägheit gilt nicht nur in der Körperwelt. Christos Tücher werden in der künftigen Hauptstadt ein Signal der Leichtigkeit, der Erleichterung setzen; sie werden für ein paar Tage die Schwere des Steins verschwinden machen, eine Oberflächlichkeit entfaltend, die ihrer selbst lustvoll inne ist. Berlin, das es sich oft so kleinlich-schwer mit sich macht, kann solche beschwingten Gesten brauchen. Ganz Deutschland braucht sie; nichts tut ihm mehr not als der genuß-, der kunstfähige Umgang mit den eigenen Widersprüchen, den eigenen Diskrepanzen.


    (1)Der Beitrag ist in geringfügig überarbeiteter Form dem Band "Wege durch dieMitte" entnommen, der dieses Jahr erschienen ist. Wir danken dem Berlin Verlagfür die freundliche Abdruckgenehmigung.

    (2) Es ist anders gekommen: der Großauftrag ging an zwei westdeutsche Firmen. Nurdas Zusammennähen der Stoffbahnen wurde einer im östlichen Teil Deutschlandsansässigen Firma übertragen.


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