Erst 1993 haben die Abgeordneten dort ein neues, schönes Haus bezogen, in dem sie einander nur per Lautsprecher verstehen; als die Anlage ausfiel, mußten sie wieder ausziehen. Auch dieser Vorgang hatte Symbolwert für die Funktionsweise von Staat und Gesellschaft; der technische Fehler war ein Fingerzeig. Er ist viel beredet worden, ohne daß das eigentliche Problem hinlänglich zur Sprache gekommen wäre; es lag in der Tatsache, daß das Parlament sich einen Saal hatte bauen lassen, in dem ohne technische Krücken von hohem Aufwand und äußerster Komplikation ein Volksvertreter nicht mehr zu den anderen reden konnte. Auch hier hatte man sich einer Formalisierung und Technisierung unterworfen (das eine hängt mit dem andern zusammen), die die Substanz der parlamentarischen Arbeit erhörlich in Frage stellte. Ein Saal für gut sechshundert Leute, der so geformt ist, daß einer den andern nur mit Hilfe ausgeklügelter Computersteuerungen vernimmt, war offenbar von vornherein der falsche Saal. Man hätte den Siemens-Technikern dankbar sein müssen, daß ihre versagende Apparatur die Aufmerksamkeit auf diese Problematik gelenkt hatte. Aber sie kam fast gar nicht in Sicht. Alle, und am meisten der Architekt, sprachen nur von dem Beschämenden des technischen Defekts, nicht von dessen architektonischer Voraussetzung, die auf den wahren Defekt verwies.
So bleiben die Debatten leicht an der Oberfläche; diese bewegt sich dann um so heftiger. Als es in Berlin Unter den Linden um Schinkels alte Neue Wache ging, um jenes aus der Zeit nach den Napoleonischen Kriegen stammende Gebäude, das zu DDR-Zeiten als zentrale Gedenkstätte für die Opfer der Kriege und des Nazi-Terrors wiederaufgebaut worden war und in der vereinten Republik nun die gleiche Funktion versehen sollte, wurde ausladend über die Skulptur debattiert, die nach dem einsamen Entschluß des regierenden Kanzlers dem Totengedenken bildnerischen Anhalt geben sollte, eine den Raummaßen anzugleichende plastische Gruppe von Käthe Kollwitz aus dem Jahr 1937. Aber das Wie der künstlerischen Gestalt war eine Nebenfrage, und die Hauptfrage blieb außer Betracht: ob es einer Zentralen Gedenkstätte denn bedürfe; ob jene staatliche Zentralisierung des Opfer-Gedenkens, wie sie die DDR an dieser Stelle vollzogen hatte, für den neuen Staat, der sich national- und bundesstaatlich bestimmte, sinnvoll und erforderlich sei. Berühmte Gelehrte entfalteten ein Feuerwerk von Gründen, warum ihnen die Kollwitz-Skulptur an dieser Stelle ganz und gar unpassend erschien. Daß man das Eingedenken an die unfaßbare Zahl ganz verschiedener und auch im Tode nicht gleicher Opfer des deutschen Imperialismus von Staats wegen zentralisieren müsse, war den Geschichtskennern nicht eingefallen in Frage zu stellen.
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Vereinigung, daß in den Städten und Dörfern des östlichen Deutschlands zwar allerorten die Thälmann- und Pieck- und Zetkin-Straßen umbenannt werden, daß aber im westlichen Deutschland und westlichen Berlin kein einziges politisches Gremium Anstalten macht, die ungezählten Straßen und Plätze umzubenennen, die den Namen dieses präsidentalen Totengräbers des Deutschen Reiches tragen. Ist die deutsche Einheit auf einem Auge blind? Auch auf diesem Feld verschenkt die Oberflächlichkeit der Betrachtung die wahre Dimension der Probleme. Nach dem Maß, das die Umbenennungswillkür der SED einst vorgab, betreibt man mit Straßennamen Geschichtspolitik und bemerkt über dem Splitter im Auge des andern nicht den Balken im eigenen Auge.
Zwischen die katastrophenbeladene alte und die hoffnungsvolle neue Nutzung des auf eine wuchtige Weise schönen Wallotbaus werden sich die hell schimmernden Christo-Tücher als ein spielerisch-heiteres lntermezzo legen; sie sind wie ein Symbol für die Hoffnungen, die die vereinte Nation mit dem Einzug des Parlaments in dieses Kastell der Volksrepräsentanz verbindet. Daß die Mehrheit des Bundestags sich in einer Summe freier Einzelentscheidungen dazu entschloß, das Kunstprojekt in dieser Bedeutung zu erfassen und jene Fehldeutungen abzuwehren, die das Vorhaben als eine Negierung geschichtlicher Würde verkannten, ist als Vorgang wie als Resultat ermutigend. Indem der neue Staat sich der Kunst nicht verschließt, stellt er sich selbst ein Reifezeugnis aus. So wird die Entscheidung selbst zu einem Symbol der Staatsklugheit, ja des Staatsvergnügens, im weiten Sinn des Wortes.
Die Realität selbst berichtigt die Großmannssucht selbstherrlicher Gremien, selbstverliebter Instanzen; nicht auf dem Weg der Voraussicht, sondern unter dem Zwang der Verhältnisse greift das Maßvolle Raum. Kostbare Zeit wird auf solchen Umwegen vertan. Eine Umzugslösung, wie sie der Haushaltausschuß des Bundestages jetzt nahelegt, mit starker Beschränkung von Regierungs-Neubauten angesichts der Tatsache, daß in Berlin ja für Ministerien viel Raum vorhanden ist, wäre schon 1991 möglich gewesen. Mit gewaltigen Planungen, ausladenden Wettbewerben suchte man der Tatsache zu entkommen, daß es mit der deutschen Einheit Ernst zu machen gälte: durch den raschen Umzug der Staats-Institutionen. Was man nicht rechtzeitig aus Einsicht tut, vollzieht sich nachmals unter dem Druck der Notwendigkeit. Vielleicht sind solche Umwege nötig; das Gesetz der Trägheit gilt nicht nur in der Körperwelt. Christos Tücher werden in der künftigen Hauptstadt ein Signal der Leichtigkeit, der Erleichterung setzen; sie werden für ein paar Tage die Schwere des Steins verschwinden machen, eine Oberflächlichkeit entfaltend, die ihrer selbst lustvoll inne ist. Berlin, das es sich oft so kleinlich-schwer mit sich macht, kann solche beschwingten Gesten brauchen. Ganz Deutschland braucht sie; nichts tut ihm mehr not als der genuß-, der kunstfähige Umgang mit den eigenen Widersprüchen, den eigenen Diskrepanzen.
(2) Es ist anders gekommen: der Großauftrag ging an zwei westdeutsche Firmen. Nurdas Zusammennähen der Stoffbahnen wurde einer im östlichen Teil Deutschlandsansässigen Firma übertragen.