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Virtuelles Parlament
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Rüdiger Voigt

Politische Symbolik und postnationale Identität

NSDAP-Parteitag 1936
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4. Nationalismus und Chauvinismus

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat in Europa allerdings zunächst der Nationalismus die Aufgabe der kollektiven Identitätsstiftung übernommen. Im Vordergrund stand nun nicht mehr der Monarch, dem als Repräsentanten einer Dynastie Loyalität geschuldet wurde, ganz gleich auf welches Territorium und welche Völker sich seine Herrschaft bezog, sondern die Nation. So geriet etwa in der Donaumonarchie das Streben von Tschechen und Slowaken, Polen und Slowenen nach einem eigenen Staat in Konflikt mit der geltenden Staatsräson. Aus dem gemeinsamen kulturellen Erbe von Sprache, Literatur und Geschichte erwuchs der Wunsch jedes der beteiligten Völker nach einem eigenen Nationalstaat. Und diese Form des Nationalismus entwickelte schließlich eine solche Sprengkraft, daß Vielvölkerstaaten wie die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie daran auseinanderbrachen. Zumindest in Europa wurde seit der Französischen Revolution die Bildung eines der eigenen Nation vorbehaltenen Staates, des Nationalstaates, zum Ideal aller nationalen und nationalistischen Bewegungen. Damit ist freilich zunächst eher der Gedanke der Befreiung vom Joch einer Fremdherrschaft, in der die eigene Nation lediglich eine Minorität darstellt, verbunden und noch nicht so sehr die chauvinistische Vorstellung, daß die eigene Nation höher stehe als die anderen, daß sie nach dem Motto "Right or wrong, my country" immer im Recht sei und daher nötigenfalls auch andere Nationen unterdrücken dürfe.

Nationalismus und Chauvinismus liegen jedoch nahe beieinander, sie stellen nur verschiedene Stadien eines Entwicklungsprozesses dar, und es ist noch nicht ausgemacht, daß das eine ohne das andere dauerhaft bestehen kann. So erscheint den einen die erste Strophe der deutschen Nationalhymne "Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt ... Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt" als ein harmloses Lied ohne jede politische Bedeutung, während die anderen, insbesondere unsere unmittelbaren Nachbarn, fürchten, daß die Deutschen erneut danach strebten könnten, alle Gebiete, in denen deutsche Stämme sich in früheren Zeiten niedergelassen haben, in einem deutschen Großreich zu vereinen. Auch die Krönung des Preußenkönigs Wilhelm zum deutschen Kaiser war ein symbolischer Akt von Chauvinismus. Die Krönungszeremonie fand bekanntlich nicht auf deutschem Boden statt, sondern auf dem Boden des geschlagenen Gegners Frankreich. Im Spiegelsaal von Versailles, dem Schloß der französischen Könige, wurde mit dem Festakt zugleich die Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen besiegelt. Seither sind den Verlierern mit besonderer Kreativität auf beiden Seiten jeweils Demütigungen dieser Art bereitet worden.

5. Nation und Nationalstaat

Das Streben auch kleiner Völker nach einem eigenen Nationalstaat führt uns angesichts der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Problematik des Nationalismus in unserer Zeit deutlich vor Augen. So konnten von den vielen neuen Staaten, die beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens entstanden waren, nur wenige (z.B. Slowenien) damit rechnen, auf Dauer wirtschaftlich lebensfähig zu sein. Auch der Krieg der Nachbarn um das Kunstgebilde Bosnien-Herzegowina war vorauszusehen. Und obwohl selbst den direkt Beteiligten die Trennung von Tschechen und Slowaken unter ökonomischen Gesichtspunkten ganz und gar widersinnig erschien, war sie dennoch nicht zu verhindern. Das Ergebnis ist auch aus der Sicht der slowakischen Nationalisten wenig erfreulich: Die Slowakei ist gerade das nicht, was die Slowaken mit der Trennung angestrebt hatten, nämlich ein homogener Nationalstaat. Eine Minderheit von 600 000 Ungarn steht dagegen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat im früheren Ostblock nationalistische Kräfte freigesetzt, die offenbar nicht zu bändigen sind. Der brutale Krieg Rußlands in Tschetschenien ist dafür ebenso ein schreckliches Beispiel wie der immer wieder aufflammende Balkankonflikt.

Es scheint so, als ob - mit wenigen Ausnahmen - die Bildung neuer Nationalstaaten wiederum zur Bildung von ethnischen Minoritäten führt, die unter Umständen ihrerseits nach einem eigenen Staat streben. Offenbar bedarf der Nationbegriff einer näheren Untersuchung. Michael Ignatieff hat hierzu eine Differenzierung vorgenommen, die zu einer Klärung des schwierigen Verhältnisses von Nation und Nationalstaat beitragen könnte. Er unterscheidet nämlich zwischen ethnischem und zivilem Nationalismus und dem jeweils dazu gehörenden Nationbegriff. Beruht die ethnische Nation auf ethnischer Homogenität, so ist die zivile Nation eine Gemeinschaft von gleichen, (grund-) rechtsfähigen Bürgern, die - unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Glauben, Geschlecht, Sprache oder ethnischer Zugehörigkeit - "in patriotischer Treue zu einem von allen geteilten Grundbestand politischer Vorgehensweisen und Werte" vereinigt sind (Ignatieff 1993: 3 f.). Da hier die Souveränität beim Volk liege, sei die zivile Nation notwendigerweise eine demokratische Gemeinschaft. Während sich nun der zivile Nationalismus mit der Französischen und der Amerikanischen Revolution anschickte, die Welt zu erobern, blieb Deutschland - neben den slawischen Ländern - ein Beispiel für den ethnischen Nationalismus, den die Nazis mit dem Motto "Ein Reich, ein Volk, ein Führer" auf die Spitze trieben.

6. Bedrohung der eigenen Identität?

Nach einem so schlichten Schwarz-weiß-Muster läßt sich allerdings die Welt heute kaum mehr einteilen. Aus zivilen Nationen wie Großbritannien spalteten sich ethnische Nationen wie Irland ab, ethnische Nationen wie z.B. Ungarn scheinen sich auf dem Wege zur zivilen Nation zu befinden. Während in der Französischen Revolution mit der Formel "Liberté, Egalité, Fraternité" der universalistischen Wertorientierung eine besondere Bedeutung zugemessen wurde, spielt heute der andere Aspekt, nämlich der Partikularismus einer sich nach außen abgrenzenden Nation, eine mindestens ebenso große Rolle. Angesichts der eingebildeten und tatsächlichen Bedrohung der eigenen Existenz durch immer neue Einwanderungswellen gerät auch in traditionell toleranten Gesellschaften Europas dieser universalistische Grundkonsens ins Wanken. Weder die britische noch die französische, geschweige denn die deutsche Gesellschaft scheinen auf Dauer mit dem Phänomen der Xenophobie fertig zu werden. Fremdenfeindliche Exzesse sind nicht nur in Rostock und Mölln, sondern auch in den Vororten von London und Paris, aber auch in anderen Städten Europas, an der Tagesordnung.

Es scheint so, als ob diese explosionsartigen Abwehrhandlungen aus der (unbewußten) Angst vor dem Verlust der eigenen bzw. der kollektiven Identität herrührten. Denn auch die Staatsbürgerschaft, die in der deutschen Diskussion um angemessene Lösungsmöglichkeiten eine zentrale Rolle spielt, ändert offenbar an dem Grundkonflikt, das Eigene durch das Fremde bedroht zu sehen, wenig oder gar nichts. In Großbritannien wie in Frankreich gilt bekanntlich das Jus Soli, d.h. jedes Kind, das auf dem Territorium des Staates geboren wird, erwirbt damit automatisch die Staatsbürgerschaft, während in Deutschland das Jus Sanguinis gilt, demzufolge das Kind mit der Geburt stets die Staatsbürgerschaft der Eltern erwirbt. Zumindest vor dem Gesetz sind damit Briten indischer oder afrikanischer Abstammung, die Nachfahren der angelsächsischen oder normannischen Einwanderer und die keltischen Ureinwohner gleich. Und auch die Franzosen algerischer, vietnamesischer oder afrikanischer Herkunft haben theoretisch die gleichen Rechte wie ihre gallischen Landsleute. Und dennoch kommt es in England regelmäßig zu Rassenkravallen, und in Frankreich machen rechte Fanatiker Jagd auf die "Beurre", junge Franzosen, deren Vorfahren aus Nordafrika stammen.


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