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Chronologie des Reichstags-Projektes

1991

Die "Bushaltestelle" von Norman Foster
Foto: Antonia Weiße © Bundesbaudirektion Berlin

Anfang Januar 1991:

Die Diskussion über Berlins Hauptstadt-Zukunft beherrscht die Schlagzeilen. Es wird beschlossen, daß der Bundestag in dieser Frage zu entscheiden hat, und zwar am 20. Juni.

9. Januar 1991:

Cullen ist bei Christo in New York. Christo hält nach wie vor Bundeskanzler Kohl für seinen Hauptgegner. Cullen kennt einen Freund von Kohl, Harvard University Marshall Rick Hunt, und bahnt ein Abendessen zwischen ihm, seiner Frau Priscilla und den Christos in New York an.

12. Februar 1991:

Die Christos und die Hunts lernen sich beim Abendessen kennen; Rick Hunt und seine Frau Priscilla werden zu großen Fans der Christos und des Reichstags-Projekts. Hunt hat kraft seiner Position - als University Marshall von Harvard ist es seine Aufgabe, die Kandidaten für die Ehrendoktorwürde zu finden - mehrmals Kontakt zum Bundeskanzler gehabt. Er erläutert den Christos seine Einschätzung von des Kanzlers Einstellung zu Kunst. Kohl habe kein Interesse an Kunst. Er will sich in den nächsten Tagen nach Kohls Einstellung zum Reichstags-Projekt erkundigen.

13. Februar 1991:

Rick Hunt berichtet den Christos, was er in Erfahrung bringen konnte, ohne die Quelle zu nennen: Der Kanzler zweifle nicht daran, daß Christo ein bedeutender Künstler sei, aber er möge das Weiße Haus oder das Kapitol verhüllen. Auf Hunts Frage, was Kohl tun werde, wenn das Projekt in aller Öffentlichkeit erörtert werde, soll ein Vertrauter des Kanzlers gesagt haben: Der Kanzler würde zum Reichstags-Projekt vor dessen Realisierung keine Stellung beziehen, sich aber im Nachhinein wie folgt verhalten: Wenn das Projekt Erfolg hat, würde er sagen, sei er dafür gewesen, wenn das Projekt keinen Erfolg hat, sei er dagegen gewesen. Christo und Jeanne-Claude haben leise Zweifel, bei so einer Einstellung das Projekt jemals realisieren zu können. Da sie bei den Vorbereitungen des Umbrellas-Projekts sind, haben sie wenig Zeit für das Reichstags-Projekt.

20. Juni 1991:

Große Debatte im Bundestag, in der über den künftigen Regierungssitz abgestimmt wird. Prominentester Unterzeichner des "Berlin-Antrags zur Vollendung der Einheit Deutschlands" ist Willy Brandt. Er spricht leidenschaftlich, ebenso wie Wolfgang Schäuble, der im Oktober 1990 einem schweren Attentat zum Opfer gefallen ist; er sitzt in einem Rollstuhl und spricht so ergreifend, daß alle Kommentatoren in den nächsten Tagen und Monaten behaupten werden, er habe die Abstimmung für Berlin gewonnen. Seine vielleicht wichtigsten Worte sind: "Deshalb ist eine Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas". Er bekommt "langanhaltenden Beifall", und Willy Brandt steht auf und gibt ihm die Hand. Die Debatte dauert von 9.00 bis 21.00 Uhr. Bei 660 abgegebenen Stimmen gibt es 338 für, 322 gegen Berlin. Im Beschluß steht, daß Parlament und Regierung binnen vier Jahre von Bonn nach Berlin umziehen. Schäubles Position in Deutschland ist sehr stark.

21. Juni 1991:

CDU-MdB Friedbert Pflüger schreibt an Rita Süssmuth: "Wir könnten den Reichstag verpacken, und nach einiger Zeit der Debatten im In- und Ausland den Bundestag wieder auspacken."

22. Juni 1991:

Cullen telefoniert mit dem Büroleiter von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Dr. Helmut Georg Müller. Ein Termin wird vereinbart, um zunächst über den Reichstagsumbau zu sprechen.

1. Juli 1991:

Frau Süssmuth empfängt Cullen in ihrem Büro im Atriumhaus am Tulpenfeld. Sie will mit ihm a) über die Umgestaltung des Reichstagsgebäudes für den Bundestag, aber auch b) über das Christo-Projekt sprechen. Dazu sagt sie, sie sei fest entschlossen, das Projekt durchführen zu lassen. Sie bittet Cullen, dies Christo nicht zu berichten, weil sie das Projekt nicht allein durchsetzen kann und ihm, als sensiblem Künstler, keine Enttäuschung bereiten möchte. Zunächst akzeptiert Cullen dieses Argument, beschließt aber, daß er Christo informieren will, weil es Christos Projekt und Christos Leben ist. Frau Süssmuth akzeptiert das Argument. Cullen ruft Jeanne-Claude und Christo an und sagt, Frau Süssmuth sei fest entschlossen, das Projekt durchzusetzen. Christo glaubt Cullen so lange nicht, bis er alle Einzelheiten des Gesprächs erfährt.

18. Juli 1991:

Erneut besucht Cullen Rita Süssmuth in Bonn. Sie berichtet von den Vorbereitungen für einen großen Reichstagswettbewerb, für ein Colloquium, das sie zur Klärung der vielen offenen Fragen über den Reichstag abhalten will, und daß sie eventuell Christo in Kalifornien, bei den Umbrellas, besuchen wird.

September 1991:

In der Zeitschrift Art zeigt CDU-MdB Friedbert Pflüger erneut Flagge für das Reichstags-Projekt.

September 1991:

Der sehr konservative "Demokratische Klub" behauptet, daß alle Vorgänger von Frau Süssmuth die Genehmigung verweigert hätten: "Der Demokratische Klub, der in den vergangenen Jahren schon zu den entschiedensten Gegnern dieses Vorhabens gehörte und mit mehreren Aktionen dagegen angekämpft hat, hält den Plan, das Gebäude für ein solches Spektakel zu mißbrauchen, erst recht zur jetzigen Zeit für völlig absurd, da es für seine eigentliche Nutzung vorbereitet werden soll."

Anfang Oktober 1991:

Auf die Frage von deutschen Journalisten, wie es mit dem Reichstags-Projekt stehe, antwortet Christo, daß er, wenn in Deutschland der Wunsch bestehe, daß er das Reichstagsgebäude verhüllen soll, auf einen entsprechenden Brief warte.

9.-28. Oktober 1991:

Das Umbrellas-Projekt in Japan und Kalifornien wird durchgeführt.

25. Oktober 1991:

Nachdem Frau Süssmuth Christo nicht in Aktion sehen konnte, versucht Cullen sie dazu zu bewegen, Christo und Jeanne-Claude in Bonn oder Berlin zu empfangen.

31. Oktober 1991:

Der ältenstenrat beschließt gegen nur eine Stimme, daß der Bundestag das Reichstagsgebäude benutzen wird, wenn er nach Berlin zieht. SPD-Bauexperte Peter Conradi teilt dies Cullen telefonisch mit: "Sie haben Ihren Reichstag, ich habe verloren." (Conradi wollte als einziger, daß ein neues Bundeshaus dort errichtet werde, wo früher das Berliner Stadtschloß stand).

21. November 1991:

Cullen berichtet Conradi brieflich vom letzten Stand der Bemühungen.

28. November 1991:

Conradi beantwortet Cullens Brief vom 21. November. "Am Dienstag [26. November] konnte ich mit Frau Süssmuth kurz über das Christo-Projekt >Wrapped Reichstag< sprechen. Mein Eindruck ist, daß sie es gerne wagen würde. Wie könnten wir in Bonn einen Anlaß schaffen, der Christo die Möglichkeit gibt, sein Projekt vorzustellen? Ich könnte mir beispielsweise eine Ausstellung seiner Projekte denken. Aus diesem Anlaß könnte man ein Gespräch mit den Fraktionsspitzen organisieren und herausfinden, ob es eine Möglichkeit für das Projekt gibt. Haben Sie eine Idee, wie man so etwas einfädeln könnte? Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir Christo einfach so einladen. Es muß ein Anlaß da sein, an den wir das Gespräch anhängen."

Anfang Dezember 1991:

Cullen überlegt einen Weg, Rita Süssmuth dazu zu bewegen, Christo nach Deutschland einzuladen; nur so wird sie Feuer fangen und sich verstärkt für das Projekt einsetzen.

12. Dezember 1991:

Frau Süssmuth sagt Cullen, daß sie Christo und Jeanne-Claude nur dann einladen werde, wenn sie sichergehen kann, daß sie eine Einladung nicht ausschlagen.

13. Dezember 1991:

Bei einem Telefongespräch mit Jeanne-Claude und Christo will Cullen wissen, ob beide eine Einladung von Frau Süssmuth annehmen würden. Zunächst lehnen sie ab und fragen, ob Frau Süssmuth ihnen die Genehmigung denn geben würde? Cullen antwortet, daß dies ziemlich unwahrscheinlich ist; es gehe nur darum, daß sie sich kennenlernen, um sich gegenseitig ihre Ernsthaftigkeit unvermittelt zu signalisieren. Das reicht Jeanne-Claude und Christo nicht aus. Erst als Cullen sagt, daß sie, wenn sie nicht nach Bonn kommen, die Genehmigung auf keinen Fall erhalten werden, beschließen sie, doch nach Deutschland zu fliegen.

20. Dezember 1991:

Christo und Jeanne-Claude erhalten einen Brief von Rita Süssmuth:

"Lieber Christo, liebe Jeanne-Claude,

wie Sie von Mr. Cullen wissen, möchte ich Ihnen helfen, ihren Traum, das Reichstagsgebäude zu verhüllen, zu realisieren. Wie Sie auch wissen, ist das Reichstagsgebäude zum Parlamentslokal für das wiedervereinigte Deutschland bestimmt worden. Da es für heutige Erfordernisse zu klein ist, muß es umgebaut und erweitert werden; in seiner Umgebung sollen weitere Parlamentsgebäude entstehen. Diese Arbeiten sollen so schnell wie möglich beginnen.

Von Mr. Cullen und aus einigen Veröffentlichungen weiß ich, daß Sie ein Jahr Vorbereitung für das Reichstags-Projekt benötigen. Wenn das Projekt bis Spätsommer 1993 realisiert werden soll, müssen Sie die vollständige Genehmigung bis zum kommenden Sommer bekommen.

Auch wenn ich Ihnen dies jetzt nicht versprechen kann, habe ich Hoffnung, daß dies mit Ihrer Hilfe möglich sein wird. Leider konnte ich Ihr Projekt in Kalifornien und Japan nicht sehen, über das ich viel gelesen habe. Die zwei tödlichen Unfälle haben mich beunruhigt, sie haben aber mein Vertrauen in Ihr Projekt nicht erschüttert.

Da ich nicht nach New York kommen kann, um Sie kennenzulernen, möchte ich Sie einladen, mich in Berlin oder Bonn in der zweiten Januarhälfte oder Anfang Februar zu besuchen. Ich bin mir sicher, daß unsere Terminkalender aufeinander abgestimmt werden können.

Mit freundlichen Grüßen

Rita Süssmuth"

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Text HTML-edited by Oskar Schirmer