© 1995 Christo & Luebbe Verlag
Obwohl nun beschlossene Sache ist, daß über das Projekt ohne Fraktionszwang im Plenum entschieden werden soll, läßt Wolfgang Schäuble in der darauffolgenden regulären Fraktionssitzung aus psychologisch-taktischen Gründen abstimmen. Das Ergebnis: 159 Abgeordnete sind dagegen, 69 dafür. Es wird beschlossen, im ältestenrat die Entscheidung für das Plenum vorzubereiten.
Als Eberhard Diepgen von dieser Entscheidung erfährt, beschließt er, daß kein Mitglied des Berliner Senats von seinem Rederecht im Bundestag (als Mitglied der Landesregierung sitzt jedes Senatsmitglied im Bundesrat und hat damit Rederecht im Plenum) Gebrauch machen soll. Diepgen befürchtet, daß ein "Anti-Berlin-Effekt" die Parlamentarier gegen das Projekt aufbringen könnte. Senator Volker Hassemer bestätigt dies am 1. März; er wollte sprechen, aber Diepgen habe ihn gebeten, dies nicht zu tun.
Der Antrag, über welchen abgestimmt werden soll, trägt das Datum 3. Februar. Er wird von 218 MdB unterstützt.
Wortlaut des Antrags:
"Deutscher Bundestag Drucksache 12/6767
12. Wahlperiode 03.02.94
Antrag
der Abgeordneten Johannes Gerster (Mainz), Heribert Scharrenbroich, Peter Kittelmann, Dr. Peter Struck, Peter Conradi, Freimut Duve, Manfred Richter (Bremerhaven), Ina Albowitz, Uwe Lühr, Andrea Lederer, Werner Schulz (Berlin) und weiterer Abgeordneter
Verhüllter Reichstag - Projekt für Berlin
Der Bundestag wolle beschließen:
Der Deutsche Bundestag stimmt der Absicht des Künstlers Christo zu, den Reichstag unmittelbar vor Beginn des Umbaus 14 Tage lang zu verhüllen. Der Deutsche Bundestag beauftragt seine Präsidentin, mit dem Künstler umgehend die dafür notwendigen Verträge abzuschließen.
Bonn, den 3. Februar 1994
[...]
Begründung
Nachdem alle Abgeordneten die Gelegenheit hatten, sich mit dem von Christo geplanten Projekt "Verhüllter Reichstag - Projekt für Berlin" auseinanderzusetzen, ist die Zeit reif für eine Entscheidung. Die Entscheidung muß auch jetzt fallen, damit genügend Zeit für die Vorbereitung des Kunstwerkes bis zum Beginn des geplanten Umbaus bleibt.
Das Reichstagsgebäude ist ein würdevolles Symbol der deutschen Geschichte und verdient großen Respekt. Dies wird durch das Kunstwerk besonders verdeutlicht. Bevor die Umbauten des Reichstages zum Bundestag beginnen, liegt in der Verhüllung eine große Chance, die Zäsur in der Geschichte der Deutschen deutlich zu machen.
Durch die Verhüllung werden der Reichstag und die deutsche Hauptstadt in einzigartiger Weise in das Interesse der deutschen Öffentlichkeit gerückt. Viele Menschen, auch aus anderen Kontinenten, werden sich auf den Weg machen zu dem Kunstwerk und damit zum Reichstag und nach Berlin.
Der Deutsche Bundestag erhält die einmalige Chance, das große Interesse für zahlreiche Informationsveranstaltungen über die Geschichte des Reichstages, Deutschlands und des Parlamentarismus zu nutzen.
Durch das Kunstwerk wird das internationale Interesse auf den Reichstag und Deutschland gelenkt. Ohne den Einsatz von Steuergeldern gewinnt die Stadt Berlin große ideelle und materielle Vorteile. Alle früheren Werke Christos hatten eine solche Wirkung.
Experten rechnen mit etwa 500.000 Besuchern, die in der Stadt rd. 0,5 Mrd. DM ausgeben werden. Hinzu kommt, daß etwa drei Milliarden Menschen sich durch die Medien über das Ereignis informieren lassen.
Der verhüllte Reichstag wird als ein temporäres Kunstwerk wie alle anderen Projekte des Künstlers ausschließlich aus eigenen Mitteln finanziert, nämlich durch den Verkauf seiner Vorstudien, früherer Arbeiten und Originallithographien.
Für die öffentlichen Haushalte entstehen keine Kosten."
Die nächsten drei Wochen sind eine Zeit des stillen Kampfes zwischen Befürwortern und Gegnern. über viele Details wird diskutiert: Wie lange wird die Debatte dauern? Wer darf, wer muß, wer soll sprechen? Wie lange? In welcher Reihenfolge? Nichts wird dem Zufall überlassen, von keiner Seite. Alle Abgeordneten in den Wahlkreisen werden von Volz nochmals angeschrieben, jeweils entsprechend der bekannten Einstellung zum Projekt. Diejenigen, von denen man weiß, daß sie dafür sind, werden inständig gebeten, zur Abstimmung anwesend zu sein. Die übrigen bekommen nochmals die Liste der Stichpunkte.
Christo beschließt, noch so viele Abgeordnete zu sprechen wie möglich. Da keine Sitzungswochen mehr sind, schlägt Volz Besuche in den Wahlkreisen vor. Bei den Gesprächen mit den Büros ergibt sich jedoch, daß man offenbar in der Zwischenzeit wirklich alle erreicht hat, die gesprächsbereit sind.
Der ältestenrat hat bestimmt, daß für die Debatte eine "Bundestagsstunde" von 66 Minuten ausreicht und daß diese 66 Minuten nach Fraktionsproporz im Plenum eingeteilt werden. Demnach erhalten die Regierungsfraktionen insgesamt 36, die SPD 20 und alle andere Fraktionen zusammen 10 Minuten. Die Debatte soll gegen 9.00 Uhr beginnen und die Abstimmung soll gleich folgen. Nur wenn das Haus sehr unsicher ist, soll durch "Hammelsprung" entschieden werden.
Christo will natürlich wissen, wer redet. Er geht davon aus, daß Heribert Scharrenbroich und Rita Süssmuth von der CDU, eventuell Dr. Oscar Schneider von der CSU, Torsten Wolfgramm von der F.D.P., Peter Conradi von der SPD für ihn das Wort ergreifen und daß Wolfgang Schäuble gegen das Projekt sprechen wird. Aber zu diesem Zeitpunkt sieht es so aus, als würde für Christo nicht Scharrenbroich, sondern Johannes Gerster reden, freilich auch keine schlechte Wahl.
Christo verbringt die restliche Zeit in Deutschland damit, Stimmung für sein Projekt zu machen. Er stellt sich Interviewern zur Verfügung. Artikel erscheinen in fast allen Zeitungen, Beiträge in fast allen Sendern.
Zurück nach Bonn. Christo ist am Rhein (in der damaligen katholischen West-Republik, wie man um des Reimes willen hinzuzufügen geneigt ist) immer abgeschmettert worden. Auch diesmal, nachdem in Bonn weiterhin geistesmäßig die linksrheinische Position verteidigt wird, stehen die Zeichen nicht günstig, obwohl Fürsprecher gewonnen wurden. Rita Süssmuth etwa, der regierende Chef-Berliner Diepgen, die Sozis Scharping und Lafontaine. Andererseits sind Kohl, der CDU-Fraktionsvorsitzende Schäuble und andere Groß-Machthaber strikt dagegen; daraus könnte unversehens eine blamable Mehrheit erwachsen. Ohne dem differenzierten Schäuble nahetreten zu wollen: Der Bundestag versteht sich als Arbeitsparlament, seine Mitglieder haben niemals sonderliche Nähe zur Kunst (zur zeitgenössischen schon gar nicht) gesucht, zum Geist, zur Literatur. Nun wird aber von der Ablehnungsfront des >wrapped Reichstag< nicht die heimliche Zugehörigkeit zur Fraktion des >Gesunden Volksempfindens< ins Feld geführt, respektive die Furcht vor entsprechenden Meinungsumfragen, nein, Christos Vorhaben einer Verwandlung von Wirklichkeit (und notabene die Anbringung von ein wenig Heiterkeit im Lande der immerwährenden Betroffenheit!) schändet vermeintlich die Würde des Parlaments.
Also: Die Einhüllung kostet keinen öffentlichen Pfennig - und der arme Reichstag? Der wird binnen kurzem ganz und gar umgebaut, ist noch ohne Funktion, hat mit dem alten Parlamentsbau von Paul Wallot kaum die Silhouette gemein und wurde wahrhaftig von anderen schrecklich geschändet, mißbraucht, zusammengeschossen. Die Einhüllung erscheint danach wie ein heilender Verband. Wenn die Abgeordneten des Bundestages sich nicht als unempfindsame Spießer entblößen wollen, sollten sie zum Erstaunen der Welt und deren Meinung über die Deutschen den Reichstag in Berlin endlich verpacken lassen durch den Christo!"
Christo kommt nach Berlin. Hier wird im Rahmen des Internationalen Filmfestivals der Film "Umbrellas" von den Maysles Brothers uraufgeführt.
Das Team spricht mit Jürgen Möllemann in seinem Büro in Düsseldorf. Er ist dafür und wird dafür stimmen. Außerdem verspricht er, in seiner Fraktion nochmals überzeugend zu wirken.
Empfang der American Chamber of Commerce in Berlin für Christo im Hotel Kempinski. Obwohl die Kammer Einladungen an alle Berliner Bundestagsabgeordneten geschickt hat, ist kein einziger gekommen, was vom Kammervorsitzenden Sieveking lautstark bemerkt wird. Christo erzählt, daß er allein im vergangenen Jahr 150 Tage in Deutschland, meist in Bonn, verbracht hat, um Unterstützung für das Projekt zu gewinnen, er müsse also dringend zurück ins Atelier, damit er Collagen und Zeichnungen machen kann, damit Jeanne-Claude etwas mehr zu verkaufen hat.
Weiter erfährt er, daß die CDU die Rednerliste zugunsten der Projektgegner manipuliert: Von den ca. 20 Minuten Redezeit, die die CDU beanspruchen darf, soll Wolfgang Schäuble 15 (gegen) und Johannes Gerstner fünf (dafür) Minuten sprechen. Nach dem Stand der Information gegen 22.00 Uhr wird es nicht möglich sein, daß Rita Süssmuth überhaupt etwas sagt, auch nicht Heribert Scharrenbroich. Wen die SPD ins Feld schickt, ist ungewiß, aber nicht so erheblich. Peter Struck hat die Parole ausgegeben, daß SPD-Projektgegner der Sitzung fernbleiben mögen.
Bei einem Telefongespräch zwischen Peter Struck und Volz Punkt 8.00 Uhr stellt sich heraus, daß die CDU/CSU-Fraktion eine namentliche Abstimmung beantragt hat.
Dies bedeutet, daß die Union sicher ist, daß bei einer solchen Abstimmung nur wenige Unionsabgeordnete gegen den Kanzler bzw. Wolfgang Schäuble stimmen würden.
Gegen 15.30 Uhr erfährt Volz, daß die Bemühungen, die Bild-Umfrage halbwegs positiv zu beeinflussen, fehlgeschlagen sind: Er hat eine Nachricht erhalten, daß sich nur 20 Prozent pro, 80 Prozent gegen die Verhüllung ausgesprochen haben. Die schlimmsten Befürchtungen werden übertroffen.
Für den Abend werden nochmals alle Abgeordnete ins Bundestagsrestaurant eingeladen. Das Christo-Team ist anwesend: Christo, Wolfgang und Sylvia Volz, Michael S. Cullen, Roland Specker, Aleks Perkovic, Tom Golden und Carl Flach. Es sind zahlreiche Mitarbeiter der MdB gekommen sowie u.a. die MdB Gudrun Weyel, Sissy Geiger, Marion Caspers-Merk und Katrin Fuchs, die Herren Struck, Conradi, Reuschenbach, v. Schorlemer, Scharrenbroich, Kossendey, Reschke und Reddemann, der gegen das Projekt ist. Auch Klaus Rosen kommt und gibt Herrn Conradi das Interview mit Willy Brandt aus dem Berliner Abend von 1977, in dem der Alt-Bundeskanzler sich positiv zu Christos Projekt geäußert hat. Die Tatsache, daß Brandt dafür war, soll die Abgeordneten positiv stimmen.
Christo hatte vor, seinen Dia-Vortrag in der Kurzfassung zu halten, da aber viele der MdB bald gehen müssen, wird zuerst über den folgenden Tag gesprochen. Für Außenseiter ist es eine merkwürdige, aber aufschlußreiche Erfahrung, mitzuerleben, wie Abgeordnete, die sich in anderen Sachen erbittert bekämpfen, plötzlich in einer Frage der gleichen Meinung sind.
Einhellig war man der Meinung, daß es irgendwie erreicht werden sollte, daß ein Projekt-Befürworter das Schlußplädoyer hält, denn die letzten Worte sind oft die, die am besten in Erinnerung bleiben. Frau Süssmuth werde nicht sprechen, (ob auf ihren eigenen oder den Wunsch anderer ist zu diesem Zeitpunkt nicht in Erfahrung zu bringen) sondern die Sitzung leiten. Vielleicht werde sie eine "Erklärung zur Abstimmung" abgeben, aber die Befürworter in allen Parteien sind dagegen. Johannes Gerster, der reden wollte, mußte in seinen Wahlkreis eilen, er wird womöglich nicht einmal an der Abstimmung teilnehmen können. Auch wird über den FAZ-Leitartikel von Schirrmacher gesprochen: Besonders Scharrenbroich irritiert der Vergleich Christo-Speer, er nennt ihn "infam". Besorgt ist man über den Ausgang der Bild-Umfrage, wobei Volz nur Heribert Scharrenbroich eröffnet, was er zu diesem Zeitpunkt darüber weiß.
Scharrenbroich hat vor, wenn er überhaupt spricht, daran zu erinnern, daß es Bundeskanzler Kohl selbst war, der die Abstimmung in der CDU/CSU-Fraktion freigegeben hat. Außerdem bekommt er von Volz ein Stück des Verhüllungsmaterials.
Volz hat erfahren, daß ein alter Projekt-Freund, MdB Wolfgang Börnsen, für den Freitag ein Frühstück angesetzt hat, wobei sich bei den Teilnehmern die Projekt-Befürworter und -Gegner in etwa die Waage halten. Herr Börnsen verspricht, diese Gelegenheit noch zu einer letzten Werbeaktion zu nutzen.
Gerätselt wird darüber, wieviele Abgeordnete überhaupt an der Sitzung bzw. an der Abstimmung teilnehmen werden. Im nachhinein erweist sich die Schätzung von Herrn Kossendey, zwischen 500 und 550, am zutreffendsten.
Auch über den möglichen Ausgang der Abstimmung wird spekuliert. Für die SPD glaubt Peter Struck etwa 180 Pro-Stimmen zählen zu können, es gäbe vielleicht 40 bei der F.D.P., 20 von den Gruppen und möglicherweise 80 von der CDU/CSU-Fraktion. 218 Abgeordnete hätten bereits den Antrag unterstützt. Es sieht also gut aus.
Christo legt fest, wer vom Team wo auf der Tribüne sitzt. Zu seiner Linken Volz, Cullen und Tom Golden, zu seiner Rechten Sylvia Volz, Specker und Carl Flach.
Auch viele Zeitungen bereiten das Publikum vor. Die Bonner Rundschau meint, das Projekt habe sein Ziel, Kunst zum Gesprächsstoff zu machen, längst erreicht. Peter Dittmar in der Welt behauptet, das Projekt nütze nur Christo. In der Süddeutschen Zeitung schreibt Jürgen Büsche, die Abgeordneten hätten besser zu ihrer Präsidentin gesagt: Entscheide du das und laß uns damit in Ruhe. Dennoch sagt der Kölner Stadtanzeiger: "Heute haben die Abgeordneten die Gelegenheit, denen, die sie gewählt haben, das Recht auf ein Kultur-Erlebnis erster Güte zuzusprechen." In der WAZ ist man nüchterner: "Wer will es sich schon mit dem mächtigen Kohl und dem ebenso mächtigen Schäuble verderben?" In der Bild steht das Abstimmungsergebnis auf Seite 2: 70 Prozent der Leser sagen Nein zur Reichstagsverpackung.
Der Tag der Debatte beginnt für Christo um 6.30 Uhr, da wollen mehrere Kamerateams ihn zu einem Termin beim Frühstücksfernsehen im WDR begleiten. Das WDR-Studio liegt direkt gegenüber vom Eingang des Bundeshauses, etwas bunkerhaft etwa drei Stockwerke unter der Erde. Nachdem Christo das Interview gegeben hat, kommt er zurück in die Maske, wo sein Team auf ihn wartet. Dennoch ist es zu früh, um hinüberzugehen; man bleibt im Studio, um nicht von anderen Leuten gesehen zu werden.
Gegen 8.40 Uhr gehen alle in den Plenarsaal. Geführt von Frau Saphörster gelangt das Team fünf Minuten später auf die Besuchertribüne, ohne von jemandem bemerkt zu werden. Die erste Reihe ist für das Christo-Team reserviert, in der zweiten Reihe sitzen die Mitarbeiter des Bonner Kunstmuseums. Das Christo-Team nimmt Platz, wobei die am Abend festgelegte Sitzordnung beachtet wird. Auch andere Christo-Freunde setzen sich in die erste Reihe: Links neben Tom Golden Dietrich Rollmann, Andrea Buddensieg, Tilmann Buddensieg und Peter Kropmanns, rechts neben Carl Flach Klaus-Henning Rosen.
Um 8.47 Uhr zeigt ein Blick in den Saal, daß noch kaum jemand da ist, man sieht jedoch schon u.a. Burkhard Hirsch und Peter Conradi sowie Frau Matthäus-Meier. Auf der Tribüne sind etwa 20 Fernsehkameras aufgebaut und ebensoviele Fotografen sind da. Auch Dr. Herbert Zapp von der Deutschen Bank und andere Freunde sind zu sehen. Viele Abgeordnete kommen noch vor der Sitzung zu Christo, um ihm Mut zu machen. Um 8.57 Uhr kommt Wolfgang Schäuble in seinem Rollstuhl in den Saal. Jetzt sieht man auch Peter Struck und Rudolf Seiters.
Punkt 9.00 Uhr nimmt Frau Süssmuth den Vorsitz und eröffnet sofort die Aussprache. Peter Conradi spricht ca. fünf Minuten, er wird nicht wie erwartet von Wolfgang Schäuble gefolgt, sondern von Burkhard Hirsch. Um 9.23 Uhr, während der Rede von Herrn Scharrenbroich, kann man sehen, wie Jürgen Rüttgers ein Exemplar der Bild mit dem Ergebnis der Umfrage aus seinem Pult zieht, zum Telefonhörer greift, und diesen Hörer auch an Schäuble weiterreicht. Um 9.25 Uhr spricht in einer Ecke Jürgen Möllemann zu Volker Rühe. Altbundespräsident Walter Scheel kommt um 9.27 Uhr auf die Besuchertribüne. Die nächsten Redner: Dr. Dietmar Keller (PDS/LL), und Conrad Weiß, der um 9.34 Uhr seine Rede beendet.
In Christos Reihen denkt man an die Rede von Wolfgang Schäuble und hofft, daß er nicht als letzter Redner den stärksten Eindruck hinterlassen wird. Plötzlich wird sein Name aufgerufen, doch Frau Baumeister geht zur Schriftführerin und sagt, daß eine Veränderung vorgenommen worden sei. Gegen 9.40 Uhr betritt Helmut Kohl den Raum und unterhält sich mit einigen Kollegen, bevor er seinen Platz einnimmt. Um 9.45 Uhr spricht Wolfgang Schäuble dann. Seine Rede ist aus Versatzstücken seiner Berliner Rede und Teilen anderer Reden zusammengebaut, und obwohl er manchmal vom Thema abweicht, läßt er keine Zwischenfragen zu. Man hat den Eindruck, als habe er zuviel Redezeit und als wüßte er sie nicht voll auszufüllen.
Der nächste Redner ist Eike Ebert, er spricht von 10.00 bis 10.08 Uhr; auch er lehnt eine Zwischenfrage ab. Als nächster Redner geht Ulrich Briefs ans Pult, er spricht nur drei Minuten, und wird gefolgt von Freimut Duve, der in seinen drei Minuten ein furioses Finale hinlegt.
Die Abstimmung dauert nur sechs Minuten, von 10.16 bis 10.22 Uhr. Während des Abstimmungsvorganges steht Christo auf und gibt dem ZDF ein zweiminütiges Interview, dann nimmt er seinen Platz um ca. 10.28 Uhr wieder ein. Freimut Duve und Peter Conradi kommen hoch, glauben, die Sache ist verloren. Wie ist es ausgegangen?
Die Antwort kommt postwendend: Um 10.29 Uhr eilt der CDU-Abgeordnete Peter Harry Carstensen auf die Tribüne und gratuliert. Christo hat gewonnen! Carstensen sagt, es sind 295 zu 230 Stimmen. Christo versucht, seine Zufriedenheit zu verbergen, die Kameras klicken wie verrückt. Eine Minute später kommt Peter Struck und gratuliert mit einer genaueren Zahl: 292 pro und 223 dagegen. Jetzt kommen viele Befürworter des Projekts auf die Bühne: Peter Conradi, Heribert Scharrenbroich, Claus-Peter Grotz, Frau Weyel, Jürgen Möllemann etc. Es sind bewegende Momente. Cullen notiert die Ergebnisse auf einem Blatt Papier und Christo unterschreibt das Papier mit der Uhrzeit 10.45 Uhr.
In diesem Moment kommt ein Bote von Frau Süssmuth, um zu sagen, daß die Bundestagspräsidentin das Team hinter der Adlerwand erwartet, sie wird gleich den Vorsitz abgeben. Erst jetzt fällt auf, daß sie die ganze Zeit den Vorsitz geführt hatte, obwohl sie von Herrn Cronenberg hätte abgelöst werden können. Sie hat offenbar die Regie bis zum Ergebnis nicht abgeben wollen.
Nach der Abstimmung war mit der Aussprache über ein anderes Thema begonnen worden, der Bericht über Alte in der Bundesrepublik Deutschland von der Bundesministerin für Familien und Senioren, Hannelore Rönsch. Kaum jemand auf der Bühne hört zu; alle scheinen nur auf die Bekanntgabe des Ergebnisses zu warten. Endlich, um 10.51 Uhr, nachdem Frau Rönsch 30 Minuten gesprochen hat, gibt Frau Süssmuth das Ergebnis zu Protokoll: 295 zu 226, 10 Enthaltungen. Unmittelbar danach breitet sich große Erleichterung aus, Christo versucht mit dem Team zu dem Treffen mit Frau Süssmuth zu gelangen, aber er wird erst einmal von den vielen Reportern - 30 bis 40 Fernsehteams warten - neben der Tribüne aufgehalten.
Hinter der Adlerwand gibt es Umarmungen und Gratulationen. Auch die Mitarbeiter von Frau Süssmuth sind da, Thomas Läufer, Ursula Berg, Brigitte Klingl, Heike Leutner, Sabine Saphörster, auch Dr. Heß von der Reichstagsverwaltung ist zu sehen. Jubel, Trubel, Heiterkeit und große Zufriedenheit.
Frau Süssmuth bittet alle in ihr Büro, wo sie gesteht, daß sie doch sehr große Bedenken hatte. Sie öffnet eine Flasche Champagner und sagt, daß sie am Abend fünf Flaschen gegen sich selbst gewettet hat und nun froh ist, daß sie die Wette verloren hat, der Sieg ist doch schöner! Christo berichtet, daß er am Abend zuvor in sehr düsterer Stimmung war. Alle sind sehr verblüfft über das Verhältnis der Stimmen. Cullen, Volz, Specker und Flach meinen übereinstimmend, daß das eine Niederlage für Kohl ist, und zwar seine zweite nach dem Debakel mit Heitmann. Diesmal hätte er sie allerdings nicht haben müssen, denn es war seine Idee, das Christo-Projekt mit namentlicher Abstimmung in das Plenum zu bringen. Manche sind der Meinung, daß es Schäubles Rede gewesen sei, die die Leute, besonders die unschlüssigen, ins Pro-Christo Lager getrieben habe.