© 1995 by Christo & Luebbe Verlag
Das Modell des Verhüllten Reichstags
Foto: Wolfgang Volz
Als bisher einziges realisiertes Werk hat er die "Verpackte Luft" auf der "documenta 4", in Kassel gesehen. Es gibt drei Gründe für Cullens Bitte: Er findet in der anbrechenden Berliner Diskussion über "Kunst auf der Straße" keine überzeugenden Argumente; er betrachtet es nicht als besonders phantasiereich, wenn Vorschläge gemacht werden, Plastiken an Berliner Straßenkreuzungen aufzustellen, und er ist der Meinung, daß damit die Kunst "dem Volke" keinen Deut nähergebracht wird.
Gleichzeitig gibt es in Berlin seit Jahren eine emotionale Diskussion über die Zweckbestimmung für das Reichstagsgebäude, das nun seit fast zwei Jahren restauriert ist und seit einem halben Jahr eine Ausstellung über die deutsche Geschichte beherbergt. Ferner sieht Cullen in einer Verhüllungsaktion von Christo die Möglichkeit, das Thema "Kunst und Politik" so zu behandeln, daß ein wirkliches Ineinandergreifen beider Bereiche erreicht wird. Diese Begründung steht nicht auf der Postkarte.
Als Michael Cullen sich in New York aufhält, besucht er Jeanne-Claude.
Beide sprechen über das Reichstags-Projekt und über die politischen Implikationen, wobei Jeanne-Claude die Meinung vertritt, daß es mindestens so interessant sein werde, die Genehmigung für das Projekt zu bekommen, wie das Objekt selbst zu verhüllen. Sie vereinbaren, sich gemeinsam mit Christo in Europa zu treffen. Zurück in Berlin besorgt Cullen Ende November rund 70 Fotos des Reichstagsgebäudes aus verschiedenen Blickwinkeln sowie Stadtpläne, Grundrisse und andere Materialien, mit denen Christo eine Reihe von Collagen machen kann.
Als Realisierungsdatum wird das Frühjahr bzw. der Sommer 1973 in Aussicht genommen. Christo kann früher als Spätsommer 1972 überhaupt nicht beginnen, weil er mit dem Projekt in Colorado zu tun hat. Es stellt sich heraus, daß Christo sehr viel über das Gebäude weiß, weil er als gebürtiger Bulgare die Geschichte des ehemaligen Ministerpräsidenten Dimitroff und seine Rolle beim Reichstagsbrand-Prozeß aus dem Schulunterricht kennt.
Er gibt dennoch zu, daß die Diskussion sehr interessant und aufschlußreich sein dürfte. Ein befreundeter Architekt verspricht, die Pläne für den Wiederaufbau des Reichstages zu besorgen. Professor Stephan Waetzoldt, Generaldirektor der Staatl. Museen Preußischer Kulturbesitz und u.a. Berater des Bundespräsidenten Heinemann, findet das Projekt "gar nicht witzig", er möchte nicht behilflich sein, verspricht allerdings, auch nicht hinderlich zu sein.