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© 1995 by Christo & Luebbe Verlag
Chronologie des Reichstags-Projektes
September 1985
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1. September 1985:
Leserbrief von Prof. Dr. Thomas Gaehtgens und Prof.
Dr. Otto von Simson von der Freien Universität, zwei hochgradig
renommierte Kunsthistoriker, deren Stimmen bis in die obersten Etagen des
Kanzleramtes reichen; "Die Idee gehört sozusagen noch in die Zeit jenes
vierzigjährigen Schlafs, dessen zum Teil skurrile Traumgeburten unser
kulturelles Leben nicht immer bereichern." Im übrigen habe der
Tagesspiegel vom 17. August Recht: keine Verpackung, aber, um die
Geschichte des Hauses besser verstehen zu können, eine Kuppel.
6. September 1985:
In Vorbereitung auf den CDU/CSU Parteitag erscheint
ein Interview mit dem Ehrenvorsitzenden der Deutschen Bank, Herman Josef Abs,
im Rheinischen Merkur, offenbar auf Anregung von Volker Hassemer. Abs
sagt, daß er in der Verhüllung eine "allegorische Maßnahme"
sieht, er findet Christos Projekt "kühn": "Wenn Sie dieses Projekt
wirklich beurteilen wollen, dann müssen Sie es zulassen."
Und in der Zeit schreibt Bucerius: "Der schwierige Bau liegt am Rande
des freien Berlin, kaum beachtet. Verpackt, würden Bilder zu Tausenden um
die Welt gehen. Sie würden sich einprägen, bei uns und bei den
befreundeten Völkern. Christo weiß Gefühle zu wecken; dem
Reichstag kämen sie zugute."
8. September 1985:
Der hochgeschätzte Architekturhistoriker Prof.
Dr. Heinrich Klotz, Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt, hat
dem Tagesspiegel einen Leserbrief geschrieben: "[Matthes] täuscht
sich gründlich, wenn er annimmt, die Idee der Verhüllung appelliere
an Sinn für Humor. Christo ist alles andere als ein herumreisender
Entertainer. Er hat sich wie kein anderer mit dem historischen, politischen und
moralischen Hintergrund, den das Gebäude gerade für Deutsche haben
muß, auseinandergesetzt und sich dabei auch nicht durch den Augenschein
seines derzeitigen Zustandes und die dürftige Art, in der es genutzt wird,
irritieren lassen ... Man denkt ja wohl daran, den amputierten
Bau wieder zu ergänzen und auch seine öffentliche Funktion endlich
aufzuwerten. Warum nicht vorab Chrtistos Verhüllung als >Requiem<?
Keine Angst, ein munteres Spektakel wird das nicht."
9. September 1985:
Der Erste Vorsitzende des Bundes Deutscher
Architekten (BDA) Berlin, Gerhard Spangenberg, schreibt Jenninger einen Brief,
in dem der BDA das Christo-Projekt unterstützt.
Bundeskanzler Kohl erklärt vor der CDU/CSU-Fraktion im Reichstag,
daß das Projekt nicht realisiert wird, solange er Kanzler bleibt.
Jenninger sagt, daß der Reichstag ein "Symbol unserer demokratischen
Tradition" sei ... Er habe bisher den Vorschlag von Christo
abgelehnt und "dabei bleibt es", betont Jenninger vor der Presse. Kohl sagt:
"Der Reichstag wirkt für sich, er braucht solche Umhüllungen
nicht."
10. September 1985:
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert
den CDU-Fraktionsvorsitzenden Alfred Dregger mit der Aussage, die Entscheidung
sei doch noch offen. Die Berliner Morgenpost behauptet dagegen, Kohl und
Jenninger hätten das Projekt "verboten". Die Berliner Morgenpost
wirbt für ihr Blatt mit Plakaten mit der Schlagzeile: "Abfuhr für
Christo - Reichstag wird nicht verpackt."
Die taz kommentiert: "Die Berliner Hotelbettenkultur ist um einen
Höhepunkt ärmer." Aber: Kohl habe Recht. Kohls äußerung
habe "kurz, klar, wahr den Nagel auf den Kopf getroffen: Es gibt andere
Objekte, die nicht von alleine wirken und auf Verpackung warten. Eines
führt in unmittelbarer Nachbarschaft des Reichstags dumpf sein
unwürdiges, ästhetisch unwirksames Dasein: Die Mauer."
Und die National-Zeitung schreibt von "großem Unfug", zitiert
Stücklen, daß man von "irgendwie gearteten künstlerischen
Aktionen" absehen möge.
Werner Rhode kommentiert im SFB: "Aus der Traum. Jedenfalls für die
nächste Zeit, auch fürs Berliner Jubeljahr 1987. Es war zu erwarten,
daß in diesen Nachsommertagen eine Entscheidung fallen würde.
Daß sie indes so unkonziliant-schroff und dürftig begründet
ausfallen würde, wie es heute in der Berliner Presse zu lesen ist, das
haben wohl auch etliche hiesige und auswärtige Christdemokraten nicht
gedacht . Philipp Jenninger, der Bundestagspräsident und Hausherr des
Reichstagsgebäudes, fügte seiner Absage den Satz hinzu, der Reichstag
sei >ein Symbol unserer demokratischen Tradition<. Selbst wenn es so
einfach wäre - es gibt auch andere Interpretationen und Assoziationen:
Wieso spräche das gegen jene temporäre Verhüllung, die ja gerade
Christos oft erläuterten Intentionen zufolge die Enthüllung eines
monumentalen Denk-Mals deutscher Geschichte bedeuten soll? Auch Kanzler Kohl,
der gesagt hat: >Der Reichstag wirkt für sich. Er braucht solche
Umhüllungen nicht.< hat offenbar Schwierigkeiten, Christos dialektische
Gedanken zu begreifen."
11. September 1985:
Die F.D.P.-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus
sagt: "Die hartnäckige Ablehnung beinhaltet einen Hauch von
Spießigkeit". Die Süddeutsche Zeitung schreibt, daß
trotz der Absagen vom Kanzler und Bundestagspräsidenten der Senat am
Projekt festhalten wolle. Und die FAZ behauptet, nach den Worten des
CDU-Fraktionsvorsitzenden Alfred Dregger sei die Entscheidung für oder
gegen die Reichstagsverhüllung "offen".
12. September 1985:
Der Lokalchef des Tagesspiegel, Günter
Matthes, schreibt: "Die umgedrehte Spießigkeit": Manche in der Redaktion
des Blattes, z.B. Feuilletonchef Heinz Ohff, seien für das Projekt, er ist
es nicht, die Zeitung als solche auch nicht. In Zukunft werde man nicht mehr
über diese Diskussion schreiben. Man könne die Debatte ad absurdum
führen, er wolle dies aber nicht. "Wer des Kaisers neue Kleider anders
sieht, sollte sie einpacken."
13. September 1985:
Ulrich Greiner schreibt auf Seite 1 der Zeit:
"Ab sofort wird man den amerikanischen Verpackungskünstler Christo nicht
mehr Verpackungskünstler nennen dürfen. Denn die wirklichen
Verpackungskünstler sitzen in der CDU und heißen Jenninger
(Bundestagspräsident) und Kohl (Bundeskanzler). Wenn Christo etwas
verpackt, wie etwa 1969 eine Steilküste in Australien oder gerade jetzt
den Pont Neuf in Paris, dann wird es kenntlich, wird es der Vergessenheit oder
Anonymität entrissen. Was Christo verhüllt, enthüllt seine wahre
Gestalt. Und wenn Christo den Berliner Reichstag hätte >verpacken<
dürfen, ... dann wäre der Welt und uns selber etwas
Verdrängtes ins Bewußtsein getreten, dann wäre es uns nicht
erspart geblieben, den Reichstag wirklich zu sehen. Christo hätte
dem Reichstag die Totenmaske abgenommen. ... Die CDU hat das
Projekt nun endgültig abgelehnt. Kohl möchte ein Haus deutscher
Geschichte in Berlin. Was Prächtiges wohl, Repräsentatives. Da kann
er, wie er es liebt, deutsche Geschichte nett einpacken, verschnüren,
drapieren und Schleifchen darum machen, er, der promovierte Historiker, der
größte Verpackungskünstler."
Am gleichen Tag treten in der ZDF-Sendung Aspekte
Christo-Befürworter auf, zu denen nicht nur Walter Scheel, Annemarie
Renger und Arend Oetker zählen, sondern Joschka Fischer, von dessen
Unterstützung Christo nicht einmal ahnt.
22. September 1985:
Das Pont-Neuf-Projekt wird vollendet. Das Presseecho
in Deutschland ist groß und positiv.
© 1995 Christo & Luebbe Verlag
Text HTML-edited by Oskar Schirmer